Filmstill aus "Von wegen 'Schicksal'"

Meilensteine: Helga Reidemeisters VON WEGEN ‚SCHICKSAL‘ (1979)

VON WEGEN ‚SCHICKSAL‘ lief auf der Duisburger Filmwoche 1979 und löste eine heftige Debatte aus. Helga Reidemeister verhandelt darin normativ stark aufgeladene Konzepte wie Ehe, Freiheit, Liebe und Mutterschaft. Er ist in der Sammlung des DFFB-Archivs dauerhaft online abrufbar.

Unterdrückung als Alltag

Bereits im Exposé für ihren Abschlussfilm an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) legt Helga Reidemeister 1978 die Sprengkraft ihres Projekts offen. Der Film behandelt unter anderem das Thema häusliche Gewalt. Nach seiner Premiere auf der Duisburger Filmwoche 1979 löst er eine prinzipielle Debatte über die Rolle von Dokumentarfilmer:innen aus: Dem bis dahin gültigen Anspruch auf Objektivität und Neutralität setzt Reidemeister ihren eigenen – mitunter recht subjektiven – Blick entgegen.

(Filmstill_Highres) Von wegen ‚Schicksal’
Filmstill aus VON WEGEN ‚SCHICKSAL’: Irenes jüngstes Kind ©Deutsche Kinemathek

Bruch mit der Norm

Lange Jahre ist Rakowitz‘ Existenz von jener Unfreiheit geprägt, die in der jungen BRD einer Mehrheit der Hausfrauen beschieden war. In ihrer Ehe dominieren die Reduktion auf das Häusliche und die Sphäre der Mutterschaft. Erwartet wird nicht zuletzt sexuelle Fügsamkeit, die notfalls mit Gewalt von ihrem Mann herbeigeführt wird. 1977 wagt sie endlich den Befreiungsschlag: Sie reicht die Scheidung ein. Die vier Kinder können, bis auf den Jüngsten, selbst entscheiden, bei wem sie leben möchten. Ab diesem Zeitpunkt versucht Irene Rakowitz, ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse stärker in den Vordergrund zu stellen. Dafür erntet sie viel Kritik – sowohl von ihren älteren Töchtern als auch von der sie umgebenden Gesellschaft und nicht zuletzt von den linken Frauengruppen, in denen sie sich politisch engagiert.

Vertrauensbasis als Grundlage

An dieser Stelle steigt Helga Reidemeister mit den Dreharbeiten zu VON WEGEN ‚SCHICKSAL‘ ein. Die beiden Frauen kennen sich bereits einige Jahre aus der politischen Arbeit im Märkischen Viertel in Berlin – einer bekannten Beton-Herrlichkeit an der Mauer mit Blick auf den Todesstreifen. Hier wohnt Familie Rakowitz seit einigen Jahren.

Reidemeister und Rakowitz verfassen den Drehplan für den Dokumentarfilm gemeinsam. Obwohl ihr gesamtes Diplom-Budget in dem Projekt steckt, sichert Reidemeister ihr vermittels beglaubigter Vereinbarung einen Rücktritt zu jedem Zeitpunkt zu. Dieses Zugeständnis bildet die Basis ihres guten Vertrauensverhältnisses und der daraus resultierenden intensiven Arbeitsweise.

Systematische Benachteiligung der Frauen

Von einer explizit feministischen Motivation nimmt Reidemeister zeitlebens Abstand, auch wenn viele ihrer Protagonist:innen starke weibliche Persönlichkeiten sind. Als linkspolitisch ausgerichtete Filmemacherin geht es Reidemeister vielmehr darum, sich der Arbeiterklasse in ihren alltäglichen Lebensumständen sowie ihrer Werktätigkeit anzunähern. Konkret bedeutet das, die geschlechterspezifischen Problematiken offenzulegen, von denen Frauen wie Irene Rakowitz massiv betroffen sind. Das klassische Familienmodell hält zu jener Zeit besonders Ehefrauen der unteren sozialen Klassen davon ab, sich politisch zu engagieren. Ihre Bedürfnisse finden darum im politischen Diskurs damals schlichtweg nicht statt.

(Filmstill_Highres) Von wegen ‚Schicksal’
Filmstill aus VON WEGEN ‚SCHICKSAL’: Protagonistin Irene Rakowitz in ihrer Küche ©Deutsche Kinemathek

Intim-Inquisition in der jungen BRD

In VON WEGEN ‚SCHICKSAL‘ brechen sich lange unterdrückte Gefühle endlich Bahn. Entgegen der allgemeinen Norm der Verschwiegenheit werden eheliche Probleme wie das Ringen um Anerkennung, Hilflosigkeit bei der Kindererziehung, häusliche Gewalt und gegenseitiges Unverständnis radikal offengelegt. Ohne Pathos berichtet Irene Rakowitz von sexueller Unterdrückung und dem damit für sie verbundenen Leid. Noch in ihrem Scheidungsurteil sei präzise festgehalten, wann der letzte eheliche Verkehr stattgefunden habe, gibt sie im Film zu Protokoll. Zu einer Zeit, in der die Regierung der BRD per Gesetz in die intimsten und privatesten Bereiche ihrer Bürger:innen Einblick fordern konnte, hatte der Mann ein Recht auf den regelmäßigen Vollzug der Ehe. Die Frau hatte sich unabhängig von ihren eigenen Wünschen zu fügen. Dieses Gesetz war bis 1997 in Kraft.

Grenzen des Privaten

Während das Eindringen des Staates in den häuslichen Raum in den 1970ern durchaus als normal angesehen wird, sind öffentliche Einblicke durch die Kamera in einen Familienverbund wie den von Irene Rakowitz eine Novität. Demensprechend heftig ist der Gegenwind, der Irene Rakowitz aufgrund ihrer offenen Ansprache dieser und ähnlicher Probleme entgegenschlägt. Ihre Tochter bezeichnet das ganze filmische Projekt beispielsweise gleich zu Beginn als „radikalen Käse“. Es folgen weitere nachdrücklichere Stellungnahmen ihrer Kinder.

Neben dem familiären Alltag in der Rakowitz’schen Wohnung ist VON WEGEN ‚SCHICKSAL‘ von Interviewsituationen geprägt, in denen die jugendlichen Töchter beisammensitzen und mehr oder minder ungehalten das Verhalten ihrer Mutter beurteilen. Die Beziehung zwischen Rakowitz und ihren älteren beiden Töchtern ist zur Zeit der Dreharbeiten dermaßen zerrüttet, dass es unmöglich ist, alle Beteiligten an einem Tisch zu vereinen. Reidemeister entscheidet sich darum dazu, Rakowitz die Aussagen ihrer Kinder vorzuspielen und filmt dann deren teils heftige Reaktionen.

(Filmstill_Highres) Von wegen ‚Schicksal’
Filmstill aus VON WEGEN ‚SCHICKSAL’: Irenes Tochter diskutiert angeregt mit ihrer Mutter ©Deutsche Kinemathek

Diskussionen auf der Duisburger Filmwoche

Die schmerzhafte Vehemenz, mit der diese und ähnliche familieninterne Konflikte offen vor der Kamera ausgetragen wurden, stößt im Anschluss an die Aufführung von VON WEGEN ‚SCHICKSAL‘ bei der Duisburger Filmwoche 1979 eine Grundsatzdiskussion über Formen dokumentarischer Praxis an.

Helga Reidemeister wird damals vorgeworfen, bei der Darstellung der Auseinandersetzung in der Familie Rakowitz zu weit gegangen zu sein. Einige Personen verlassen noch während des Screenings den Kinosaal. Besonders eine rund 15-minütige Plansequenz am Küchentisch der Familie Rakowitz erhitzt die Gemüter. Darin diskutiert Irene Rakowitz mit ihrem sechsjährigen Sohn darüber, ob Waffen ein zulässiges Kinderspielzeug seien. Im Gegensatz zu ihrem Exmann, der selbst Gewehre für seinen Sohn schnitzt, betrachtet Irene Rakowitz dies als Wurzel der Alltagsgewalt, die sie lange Jahre ihres Lebens erdulden musste. Der Junge beginnt irgendwann zu weinen, doch seine Mutter lässt nicht locker. Reidemeister ergreift an dieser Stelle aus der (machtvollen) Position einer Stimme aus dem Off deutlich Partei für Irene. Sowieso drückt sich ihre von Empathie geprägte Haltung immer wieder im Film durch.

Helga Reidemeister
Helga Reidemeister ©FABW

Das Protokoll vermerkt Tumulte

Sich derart mit seiner Protagonistin gemein zu machen und in das Geschehen vor der Kamera einzugreifen, geht damals einigen zu weit – beispielsweise dem führenden Dokumentarfilmmacher und -theoretiker Klaus Wildenhahn. Das intensive persönliche Verhältnis zwischen Reidemeister und Rakowitz sei in einem Grad von Parteilichkeit gemündet, die keine Widersprüche zwischen ihnen zuließe, so der Vorwurf.

 

Andere Anwesende wie Klaus Kreimeier sehen das anders. Sie nennen VON WEGEN ‚SCHICKSAL‘ einen „Dokumentarfilm im besten Sinne“. Kreimeier lenkt den Fokus der Kritik am Film auf die offensichtliche Unfähigkeit von Teilen des Publikums, emotionale Spannungen und Widersprüche im Dokumentarfilm auszuhalten, obwohl diese im Spielfilm sowohl omnipräsent als auch akzeptiert seien. Die Debatte geht so weit, dass im traditionell auf der Duisburger Filmwoche zu jedem Screening angefertigten Protokoll Tumulte im Saal vermerkt werden.

Die Kreimeier-Wildenhahn-Debatte

Im Nachhinein löst sich die Debatte von diesem Einzelfall und beschäftigt sich im Allgemeinen mit dem krisenhaften Verhältnis der Dokumentarfilmschaffenden zur Realität. Der Filmkritiker Klaus Kreimer wirft dem Dokumentarfilmer Klaus Wildenhahn vor, er würde das Konstruierte, Gemachte am Dokumentarfilm naiv übersehen. Im Gegenzug erklärte Wildenhahn Kreimeier zum hoffnungslosen Romantiker, der die Wirklichkeit zum Kunstprodukt verforme. Es folgt ein hitziger Schlagabtausch in den Feuilletons der Republik.

Bis heute wird dieser unter dem Schlagwort „Authentizitätsdebatte“ in periodischen Abständen weitergeführt. Zuletzt wurde sie u. a. im Jahr 2021 von Elke Lehrenkrauss und ihrem nicht als semi-dokumentarisch gekennzeichneten Film LOVEMOBIL ausgelöst.

Filmstill aus "Von wegen 'Schicksal'"
Irene Rakowitz hat den Film über ihr Leben entscheidend beeinflusst. © ZDF/Helga Reidemeister

Klassengegensätze und Emanzipation

Helga Reidemeister stößt mit VON WEGEN ‚SCHICKSAL‘ also genau den Prozess an, der ihr zeitlebens besonders am Herzen liegt: Reflexion. Irene Rakowitz sitzt im Film wiederholt vor dem Schneidetisch, an dem ihr bereits gedrehte Interviews mit ihren jugendlichen Töchtern vorgespielt werden. So kann sie den Film bereits während seines Entstehungsprozesses kommentieren. Mit filmästhetischen Entscheidungen dieser Art fängt Reidemeister die persönlichen Entwicklungen ihrer wichtigsten Protagonistin ein.

So zum Beispiel die Probleme, zu denen Rakowitz‘ Entscheidungen auch in ihrer neuen Partnerschaft führen. Bis zuletzt versteht ihr neuer Lebenspartner nicht, warum sie eine zweite Ehe ablehnt. Es zeigt sich, dass Rakowitz‘ Verweigerung eine dauerhafte Konfliktquelle für ihr Leben darstellt. Ihren teuer erkämpften Freiraum will sie aber trotz aller Widrigkeiten nicht mehr aufgeben. Gleichzeitig zeigt Reidemeister die Widersprüche, in die ihre Protagonistin sich verstrickt. Beispielsweise, wenn sie trotz der von ihr propagierten Gewaltfreiheit ihren jüngeren Kindern Prügel androht oder sie wütend beschimpft. Dies zeigt: Auch ein Scheitern an den eigenen Ansprüchen gehört zum Entwicklungsprozess dazu.

Helga Reidemeister bei DOKVILLE 2016Reidemeister beschreibt ihre Protagonistin Irene Rakowitz in VON WEGEN ‚SCHICKSAL‘ als eine Kämpfernatur, die trotz psychischer und physischer Rückschläge stets das Beste aus ihrer Lebenssituation zu machen versucht. Diese wolle „leben im Sinne von erleben“, so Reidemeister in ihrem Exposé für die Filmhochschule.

„Das Private ist politisch“

Der 2021 verstorbenen Filmemacherin Helga Reidemeister gelingt es in VON WEGEN ‚SCHICKSAL‘, die sichtbar werdenden Ambivalenzen, die das Produkt einer bestimmten Klassensituation Ende der 1970er Jahre sind, sowohl als individuelle wie auch als gesellschaftliche Widersprüche deutlich zu machen. Der Dokumentarfilm fällt im Jahr seiner Veröffentlichung 1979 auf den fruchtbaren Boden des zu seiner Zeit erstarkenden feministischen Leitsatzes „Das Private ist politisch“. Diese Botschaft hat seither nicht an Relevanz verloren.

Kostenlos im Stream verfügbar

Der Film befindet sich im Filmverleih der Deutschen Kinemathek, die ihn 2014 digitalisiert und restauriert hat. Er ist online im DFFB-Archiv abrufbar.

VON WEGEN ‚SCHICKSAL‘ lief 1979 bei der 3. Duisburger Filmwoche, wo er kontrovers diskutiert wurde, und erhielt im selben Jahr den Deutschen Filmpreis – das „Filmband in Gold“. Ausgestrahlt wurde der Film im Rahmen der renommierten Reihe ZDF – Das kleine Fernsehspiel.

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Picture of Maggie Schnaudt
Maggie Schnaudt ist Masterstudentin und steuert regelmäßig Artikel wie Nachberichte zur DOK Premiere zu dokumentarfilm.info bei. Außerdem unterstützt sie HDF-Veranstaltungen wie den Roman Brodmann Preis oder DOKVILLE.
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