Filmstill aus DIE KINDER AUS KORNTAL: Man sieht einen älteren weißen Mann, der in einem Treppenhaus steht und nachdenklich zur Seite schaut. Hinter ihm hängt ein Kreuz. (Credit: DOK Leipzig 2023/DIE KINDER AUS KORNTAL, Regie: Julia Charakter)

Wider das Vergessen: DIE KINDER AUS KORNTAL von Julia Charakter

DIE KINDER AUS KORNTAL ist ein ergreifend schmerzhafter Dokumentarfilm gegen das Vergessen, der leise erzählt umso stärker nachhallt. Empathisch und respektvoll spürt die Drehbuchautorin und Regisseurin Julia Charakter darin Missbrauchsfällen von Kindern und Jugendlichen in den Kinderheimen der Evangelischen Brüdergemeinde und ihrer Diakonie in Korntal und Wilhelmsdorf nach.

CONTENT WARNUNG: Dieser Artikel und der Dokumentarfilm DIE KINDER AUS KORNTAL behandeln Themen wie psychische, körperliche und sexualisierter Gewalt, PTBS, Suizidalität und Machtmissbrauch. Diese können Trigger sein und/oder (re)traumatisierend wirken. Hilfs- und Beratungsangebote sind u. a. beim BMFSFJ und bei Unicef gelistet.

Rathaus Korntal-Münchingen, offizielles Pressebild der Stadt (Credit: Stadt Korntal-Münchingen)
Rathaus Korntal-Münchingen (Pressebild der Stadt)

Das „heilige Korntal“

Korntal-Münchingen hat gut 20.000 Einwohner:innen und ist ein idyllisches Städtchen mit hoher Lebensqualität. Circa eine halbe Stunde mit dem Auto oder der S-Bahn von Stuttgart entfernt, vereint der Ort die Vorzüge des ländlichen Raums mit einer guten Infrastruktur und Anbindung. In der Region ist die Kleinstadt aufgrund ihrer Geschichte und der starken Präsenz der Evangelischen Brüdergemeinde auch als „heiliges Korntal“ bekannt. Diese ist eine selbständige christliche Gemeinde, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts in Kooperation mit der Evangelischen Landeskirche in Württemberg seit 1819 besteht und aktuell rund 1.500 Mitglieder zählt. 

Systematische Gewalt gegenüber den Schwächsten

Gleichzeitig ist Korntal ein Ort, an dem ab den 1950er Jahren bis weit in die 2000er hinein schreckliche Straftaten verübt wurden: systematische psychische, körperliche und/oder sexualisierte Gewalt gegenüber den Schwächsten – Kinder und Jugendliche, die sich als Waisen oder sogenannte „Sozialwaisen“ (Menschen mit Angehörigen, die sich aber nicht mehr kümmern können oder wollen) in der Obhut der pietistischen Brüdergemeinde befanden. Die Verbrechen wurden erstmals 2014 durch Detlev Zander (Aufmacherbild des Artikels) öffentlich gemacht, der sich seitdem mit anderen Opfern für die Aufarbeitung der Taten engagiert. Bis heute sind gut 180 Fälle bekannt und bestätigt. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen, denn zahlreiche ehemalige Heimkinder sind bereits verstorben bzw. haben sich suizidiert.

Filmstill aus DIE KINDER AUS KORNTAL. Man sieht eine Kirche im Abendlicht, im Vordergrund fährt ein Kind auf einem Roller durchs Halbdunkel (Credit: DOK Leipzig 2023/DIE KINDER AUS KORNTAL, Regie: Julia Charakter)
Blick auf den Saalplatz in Korntal (Filmstill aus DIE KINDER AUS KORNTAL)
Filmstill aus DIE KINDER AUS KORNTAL. Man sieht einen Mann am S-Bahnhof Korntal. Dieser Bahnhof liegt im Nebel. Die Stimmung wirkt gedrückt. Der Mann schaut nach unten, sein Gesicht ist nicht zu sehen, er steht im seitlichen Profil. (Credit: DOK Leipzig 2023/DIE KINDER AUS KORNTAL, Regie: Julia Charakter)
S-Bahnhof Korntal (Filmstill aus DIE KINDER AUS KORNTAL)

Hinschauen, auch wenn es wehtut

„Ich mag dieses Wort nicht ‚Betroffenen eine Stimme geben‘“, betont Detlev Zander gleich zu Beginn des Films. „Betroffene haben alle eine Stimme. Menschen mit Gewalterfahrungen haben Stimmen. Bloß werden sie nicht gehört!“ Filmemacherin Julia Charakter hört hin – und vor allem hört sie zu. Vor die Kamera holt sie einige der Opfer, die vom Erlebten erzählen. Manche Geschehnisse werden zudem durch Schwarz-Weiß-Animationen (Mick Mahler) visualisiert. Die Schilderungen der Straftaten sind kaum auszuhalten und können gleichwohl nur einen Bruchteil des Grauens wiedergeben, dem die Kinder aus Korntal lange Zeit wehrlos ausgesetzt waren. Schwer traumatisiert und nicht selten gebrochen gehen sie als Erwachsene durchs Leben. Viele von ihnen sind in stationärer oder ambulanter Behandlung, können oftmals keinem geregelten Beruf nachgehen, haben Probleme im Alltag und im zwischenmenschlichen Kontakt.

Filmstill aus DIE KINDER AUS KORNTAL. Man sieht ein animiertes Bild in Schwarz-Weiß, das eine körperliche Züchtigung einer Person zeigt. Diese liegt über einem Stuhl. Im Raum sind weitere Personen, die auf Stühlen sitzen. Eine Person ist frontal abgebildet und hält den Blick gebeugt und die Hände zwischen den Knien gefaltet. (Credit: DOK Leipzig 2023/Regie: Julia Charakter)
Körperliche und psychische Gewalt gegenüber Schutzbefohlenen
Filmstill aus DIE KINDER AUS KORNTAL. Man sieht ein animiertes Bild in Schwarz-Weiß, das einen Schlafsaal mit drei Betten zeigt sowie eine stehende Person am Rand des Bildes, die von hinten dargestellt wird und etwas betrachtet oder rausschaut. Eine genaue Einordnung des Blickes ist schwer möglich. (Credit: DOK Leipzig 2023/Regie: Julia Charakter)
Blick in den Schlafsaal (beide Animationen: Mick Mahler)

Den Opfern zuhören

Kamera und Montage fokussieren während der Interviews und den oftmals in kühlen, gedeckten „November-Farben“ gehaltenen Aufnahmen im Ort ruhig auf das, was geschieht und gesagt wird. Es erfolgt keine zusätzliche Dramatisierung der Aussagen, z. B. durch schnelle Kamera-Bewegungen und Schnitte (Kamera und Montage: Jonas Eckert mit Julia Charakter) oder den Einsatz von betont emotionalisierender Musik (Komponist Leonard Küßner arbeitet im besten Wortsinn subtil). Allein Bettina Wegners Lied „Kinder (Sind so kleine Hände)“ erklingt prominent zu Beginn und zum Ende des Dokumentarfilms und brennt sich in Ohren und Herz ein. Wer auf den Text hört, weiß warum.

🎶 KINDER (Sind so kleine Hände)

Lyrics

Sind so kleine Hände, winz’ge Finger dran
Darf man nie drauf schlagen, die zerbrechen dann
Sind so kleine Füße, mit so kleinen Zeh’n
Darf man nie drauf treten, könn’ sie sonst nicht geh’n
Sind so kleine Ohren, scharf und ihr erlaubt
Darf man nie zerbrüllen, werden davon taub
Sind so schöne Münder, sprechen alles aus
Darf man nie verbieten, kommt sonst nichts mehr raus
Sind so klare Augen, die noch alles seh’n
Darf man nie verbinden, könn’n sie nichts versteh’n
Sind so kleine Seelen, offen und ganz frei
Darf man niemals quälen, geh’n kaputt dabei
Ist so’n kleines Rückgrat, sieht man fast noch nicht
Darf man niemals beugen, weil es sonst zerbricht
Grade klare Menschen wär’n ein schönes Ziel
Leute ohne Rückgrat hab’n wir schon zuviel
© Bettina Wegner, 1976

Für das Geschehene geradestehen

Auch relativiert, subjektiviert und kommentiert Julia Charakter nicht. Das überlässt sie dem Korntaler Bürger Andreas Schönberger, der ehemaligen Frankfurter Jugendrichterin Dr. Brigitte Baums-Stammberger, die Teil der Aufklärungskommission war, und teils ranghohen Mitgliedern der Gemeinde. Die Statements, die vor allem Jochen Hägele (bis 2022 Pfarrer und Geistlicher Vorsteher der Brüdergemeinde) und das alteingesessene Ehepaar Schweizer tätigen, machen mehr als einmal fassungslos. Erschütternde Lebens- und Leidensgeschichten von vielen werden durch ihre Worte zu tragischen Einzelschicksalen degradiert, die u. a. mit einer sozial schwachen Herkunft der Person gerechtfertigt werden.

Je länger DIE KINDER AUS KORNTAL läuft, desto deutlicher wird, dass das Einstehen für die schwere Schuld, die die Brüdergemeinde auf sich geladen hat, und eine echte Aufarbeitung der Taten noch lange nicht passiert sind. Vielmehr schwingt unterschwellig immer das Gefühl mit: „Nun ist schon so viel Zeit vergangen, jetzt muss es auch mal gut sein mit dieser leidigen alten Geschichte.“ Eine Gedenkstele für Missbrauchsopfer, ein paar warme Worte und geleistete Anerkennungszahlungen meist im niedrigen vierstelligen Bereich können jedenfalls nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine aus tiefstem Herzen kommende Reue und die aufrichtige Bitte um Vergebung noch immer weitgehend fehlen. Auch das hebt der Film in seinem bewusst unaufgeregten Ton schmerzhaft hervor.

DIE KINDER VON KORNTAL ist schwer zu ertragen und findet hoffentlich trotzdem – und gerade deshalb – sein Publikum.

DIE KINDER AUS KORNTAL bei DOK Leipzig und dem FFCGN

Der Dokumentarfilm DIE KINDER AUS KORNTAL ist ein Projekt von Julia Charakter (Charakterfilm) aus der Masterclass Non-Fiction der Internationalen Filmschule Köln (IFS) und hatte am 11. Oktober 2023 Weltpremiere bei DOK Leipzig. Die Produktion von Bildersturm Filmproduktion mit ZDF/Das kleine Fernsehspiel und GEO Television läuft im Wettbewerb Deutscher Dokumentarfilm und ist nominiert für den Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts, den DEFA Förderpreis und dem VER.DI Preis für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness. Nach dem Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm ist DIE KINDER AUS KORNTAL beim Film Festival Cologne/FFCGN (19. bis 26.10.23) zu sehen.

Ausgezeichnet mit dem Förderpreis der DEFA-Stiftung

Update vom 14.10.23: Der Film DIE KINDER AUS KORNTAL wurde bei DOK Leipzig mit dem mit 4.000 Euro dotierten Förderpreis der DEFA-Stiftung ausgezeichnet. Die Preisverleihung fand am 14. Oktober 2023 in Leipzig statt. Die Jury um Birgit Kohler, Serpil Turhan und Claus Löser urteilte: „Dem Film gelingt es, durch eine präzise Recherche der Filmemacherin und die erschütternden Aussagen der Protagonistinnen und Protagonisten, das komplexe Bild eines systemischen und nicht enden wollenden Missbrauchs nachzuzeichnen. Das Schweigen ist gebrochen.“

DOK Leipzig 2023: DEFA Förderpreis für Die Kinder aus Korntal/Charakterfilm (by Susann Bargas Gomez/DOK Leipzig)
Julia Charakter und Jonas Eckert freuen sich über den Preis (Foto: S. Bargas Gomez)
DOK Leipzig 2023: DEFA Förderpreis für Die Kinder aus Korntal/Charakterfilm (by Sophie Mahler/DOK Leipzig)
Die Filmemacherin Julia Charakter bedankt sich für die Würdigung (Foto: S. Mahler)
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Picture of Elisa Reznicek
Elisa Reznicek leitet die Online-Redaktion beim Haus des Dokumentarfilms und ist für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Hauses zuständig.
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