Szene aus »Buena Vista Social Club« © Road Movies Film Produktion / Wim Wenders Stiftung

Von Hochs und Tiefs: Zur Situation des Dokumentarfilms

Kay Hoffmann, Filmexperte aus dem Haus des Dokumentarfilms, hat sich kürzlich für einen Vortrag beim DokFest Kassel mit der aktuellen Situation des Dokumentarfilms und der Entwicklung des Genres im letzten halben Jahrhundert beschäftigt. Dabei zeigt seine Analyse, dass an die Erfolge der Dokus nach der Jahrtausendwende kein aktuelles Werk mehr herankommt. Wird der Kino-Dokumentarfilm ein Opfer der Digitalisierung?

 

Das DokFest Kassel organisierte zusammen mit dem Lichter Filmfest Frankfurt einen »Salon – Zukunft deutscher Film. Zur Wiederbelegung der dokumentarischen Form im Kino«. Elf Expertinnen und Experten tauschten sich einen Tag lang nicht öffentlich über die Situation des Dokumentarfilms aus. Die Ergebnisse des Salons werden in einem Kongress Zukunft deutscher Film (5. bis 7. April 2018) beim Lichter Filmfest in Frankfurt einfließen. Eine vergleichbare Veranstaltung hatte es, angeregt von Altmeister Edgar Reitz, bereits zum Spielfilm gegeben. Kay Hoffmann, Studienleiter Wissenschaft im Haus des Dokumentarfilms, war dabei und hielt einen Vortrag zur aktuellen Situation und historischen Entwicklung des Dokumentarfilms, der hier leicht überarbeitet veröffentlicht wird.

 

Im Moment herrscht Krisenstimmung in der Doku-Branche. Die Boomphase vor zehn Jahren, als dokumentarische Filme regelmäßig über 1 Mio. Besucher im Kino erreichten, scheint vorbei. Zwar starten jetzt so viele Dokumentarfilme im Kino wie noch nie, aber sie erreichen selten ein größeres Publikum. Der Besucherschwund im Kino liegt an der Veränderung der Medienlandschaft allgemein mit Internet und überall verfügbarem Angebot bewegter Bilder. Ein weiterer Aspekt ist sicherlich die Digitalisierung der Kinos, die die Programmierung extrem verändert hat. Gerade Dokumentarfilme werden nur noch punktuell eingesetzt. Selten werden sie im Hauptabendprogramm gezeigt, bestenfalls am frühen Abend, am Nachmittag oder in der Sonntags-Matinee. Dadurch kann der Dokumentarfilm sein Publikumspotential kaum ausschöpfen.

Eine gefährliche Spirale der Erwartungen eines Publikumserfolgs hat eingesetzt. Da die Kinos und Verleihe keine hohen Publikumserwartungen haben, behandeln sie ihn stiefmütterlich, was dann oft auch dazu führt, dass er keine hohen Besucherzahlen hat und das Vorurteil bestätigt. Zu den Ausnahmen komme ich später. Der Dokumentarfilm könnte zum ersten Opfer der Digitalisierung der Kinos werden, indem seine öffentliche Wahrnehmung massiv nachlässt.

Wenn man sich die Geschichte des Dokumentarfilms in Deutschland vor Augen führt, wird klar, dass er sich immer wieder auf neue Verhältnisse einstellen musste. Zunächst waren die Kulturfilmer in den 1950er Jahren traditionell darauf spezialisiert, Vorfilme fürs Kino in 35 mm-Film zu produzieren. Doch diese Auswertung verlor an Bedeutung. Es gab außerdem erfolgreiche lange Dokumentarfilme im Lichtspielhaus über fremde Länder, Expeditionen, Sport oder historische Themen. Viele Dokumentarfilmer mussten sich ihr Geld jedoch durch Auftragsproduktionen für die Industrie, staatliche Institutionen oder Lehr- und Unterrichtsfilme verdienen.

In den 1960er Jahren politisierte sich die Gesellschaft. Im dokumentarischen Bereich setzte sich für die Aufnahme 16 mm und später Video durch. Die politisch aktiven Filmemacher, die die Gesellschaft verändern wollten, suchten sich neue Vertriebsmöglichkeiten als Autorenfilmer. Es entstanden in den 1970er Jahren engagierte Programmkinos, Kommunale Kinos und eine breites Netz nicht-kommerzieller Spielstätten in Kulturhäusern, Jugendzentren, Filmclubs und den Kirchen. Viele Macher finanzierten ihre Produktionen über das öffentlich-rechtliche Fernsehen, aber auch durch den lukrativen Verkauf von 16 mm-Kopien für den alternativen Vertrieb. Dieses System brach nach 1980 mit der Durchsetzung von Video und später DVD zusammen. Die staatliche Filmproduktion des DEFA-Dokstudios in der DDR arbeitete nach ganz anderen Prinzipien, aber auch dort blieb der Dokumentarfilm im Kino eine Nische und wurde hauptsächlich in kleinen Studio-Kinos gezeigt.

Die zunehmende Digitalisierung von Produktion und Postproduktion, die um 1990 begann, veränderte den Dokumentarfilm erneut fundamental. Die Kameras wurden kleiner. Bei den Kosten spielte das Material kaum eine Rolle, und man konnte Ereignisse lange am Stück aufzeichnen. Der digitale Schnitt machte einen neuen ästhetischen Stil und eine andere Montage möglich. Der Druck zur Professionalisierung stieg in einer veränderten Medienlandschaft mit kommerziellem Fernsehen und einer Europäisierung der Filmproduktion. Sowohl in Brüssel als auch in Deutschland wurden zahlreiche Filmförderungen gegründet, die wachsende Ansprüche an die Produkte und die Darstellung ihrer Finanzierung hatten. Der sogenannte Rucksackproduzent, der alle Funktionen der Herstellung übernahm – die Stoffentwicklung, den Dreh, den Schnitt und dem Vertrieb – wurde zur Ausnahme zugunsten einer Spezialisierung der Aufgaben. Die Ausbildung an den Filmhochschulen führte ebenfalls zu einer Professionalisierung.

Diese Entwicklung erklärt neben anderen Faktoren den Erfolg von Dokumentarfilmen im Kino, die mit Wim Wenders »Buena Vista Social Club« einsetzte. Er startete im Sommer 1999 und hatte rund 1,2 Mio. Besucher. Internationale Erfolge wie die Filme von Michael Moore oder Tierdokus wie »Die Reise der Pinguine« oder »Nomaden der Lüfte« folgten. Aber auch eine deutsche Produktion wie »Rhythm is it!« konnte 2004 fast 650.000 Zuschauer erreichen. Fast ein Selbstläufer war 2006 »Deutschland: Ein Sommermärchen« von Sönke Wortmann über die WM in Deutschland mit fast vier Mio. Besuchern. Obwohl die deutschen Handballer die Weltmeisterschaft 2007 sogar gewannen, erzielte der Dokumentarfilm “Projekt Gold. Eine deutsche Handball-WM” von Winfried Oelsner mit 125.000 Besuchern bei Weitem nicht diese Besucherzahlen.

Szene aus »Rythm is it!« © Boomtown Media / Piffl Medien
Szene aus »Rythm is it!« © Boomtown Media / Piffl Medien

Das erreichte im selben Jahr mit knapp vier Millionen Besuchern noch einmal die deutsch-britische Koproduktion “Unsere Erde” von Alastair Fothergill und Mark Linfield. Wegen dem kontinuierlichen Erfolg gilt diese Dekade als Boomphase des Dokumentarischen. Das Genre wurde zu einem publizistischen Thema, man sprach darüber und erreichte ein neues Publikum. Viele Zuschauerinnen und Zuschauer erkannten, dass der moderne Dokumentarfilm nicht langweilig und belehrend sein muss, sondern durch große Bilder und kreatives Sound-Design überzeugen konnte. Die Kraft des Dokumentarischen versuchte sich in immer neuen Formen und Stilen und starken Geschichten.

Diese Qualitäten zeichnen den Dokumentarfilm bis heute aus. Nur das Publikum ist wählerischer geworden. Die wachsende Resonanz für den Dokumentarfilm auf Festivals lässt jedoch hoffen, dass das Interesse nicht gänzlich verloren gegangen ist. Mit kuratierten Programmreihen, speziellen Film-Events mit Gästen und Filmgesprächen und spezieller Ansprache von Zielgruppen ist es auch heute möglich, Zuschauer für den Dokumentarfilm im Kino zu begeistern. Eine besondere Herausforderung an die Kinomacher ist es, die nachwachsenden Generationen für dies Genre zu gewinnen und ihnen klar zu machen, dass es ein Unterschied ist, ob man einen Dokumentarfilm auf der Leinwand, im Fernsehen, im PC oder Smartphone sieht. Dies alles macht Arbeit und die muss letztlich öffentlich gefördert werden. Mit hunderten von Millionen wird bei uns jedes Jahr die Produktion von Filmen unterstützt. Es ist Zeit, dass auch der Vertrieb, die Präsentation im Kino und die Archivierung wesentlich umfangreicher gefördert werden als es bisher geschieht. Nur so kann sich der Dokumentarfilm in der heutigen Medienlandschaft durchsetzen und seine Bedeutung behalten, die ihm zweifelsohne zusteht.

Sieht man sich die erfolgreichsten Dokumentarfilme im Kino der letzten drei Jahre an, gibt es Zeichen der Hoffnung. 2015 war Valentin Thurn mit »10 Milliarden – Wie werden wir alle satt?« mit gerade mal 53.000 Besuchern der erfolgreichste Dokumentarfilm. 2016 schafften es Silke Schranz und Christian Wüstenberg mit ihrer Reisedokumentation »Südafrika – der Kinofilm« immerhin fast 90.000 Besucher zu begeistern. In dieser Reisereportage dokumentieren sie ihre Reise im Wohnmobil durch das südliche Afrika. Im vergangenen Jahr gab es mit »Weit – Die Geschichte von einem Weg um die Welt« von Patrick Allgaier und Gwendolin Weisser ein besonderes Phänomen. Der sehr persönliche Film über eine Weltreise der beiden ohne Flugzeug per Anhalter, zu Fuß, Zug und Schiff lief das ganze Jahr mit konstanten Besucherzahlen. Im Moment haben ihn bereits knapp 400.000 Zuschauer gesehen; und er läuft noch immer mit großem Erfolg. Die Reise und der Film sind mit sehr geringen Mitteln und zum Teil durch eine Crowdfunding-Kampagne finanziert worden, an der sich rund 1000 Menschen beteiligten. Man konnte den Beiden bei ihrer vierjährigen Reise auf ihrem Blog folgen. Sie erfüllten damit wahrscheinlich den Traum von vielen Menschen, einmal für ein paar Jahre auszusteigen.

Ein ähnliches Bedürfnis befriedigte wohl auch “Expedition Happiness” von Felix Stark und Selima Taibi, die sich einen Schulbus umbauten und damit durch Nordamerika fuhren. “Maleika” von Matto Barfuss über eine Gepardin und wie sie ihren Nachwuchs durchbringt hat ebenso wie der phänomenale Dokumentarfilm “Beuys” von Andres Veiel über 80.000 Besucher. Man kann gespannt sein, wie sich der Dokumentarfilm 2018 entwickelt.

Szene aus »10 Milliarden« © Thurnfilm
Szene aus »10 Milliarden« © Thurnfilm

Zwei erfolgreiche deutsche Dokumentarfilme der letzten Jahre: »10 Milliarden« (links) und »Beuys« (rechts) @ Thurnfilm, zero one film

Szene aus »Weit - Die Geschichte von einem Weg um die Welt« @ Weit GbR
In Eigenregie gestrickter Überraschungserfolg im Kino: »Weit – Die Geschichte von einem Weg um die Welt« @ Weit GbR
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Dr. Kay Hoffmann war langjähriger Studienleiter Wissenschaft im HDF und Gesamtkoordinator des DFG-Projekts „Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1945-2005“. Zusätzlich ist er seit langem Kurator der DOK Premieren in Ludwigsburg.
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