Bitte nach Mitte 01

„Bitte nach Mitte!“ – Dokumentarfilm von Anne Osterloh

Eine Schauspielschule als Spiegel der Gesellschaft. Dies ist der Ausgangspunkt des 62 Minuten kurzen Dokumentarfilms „Bitte nach Mitte!“ von Anne Osterloh. Sie hat selbst an der Schauspielschule „Ernst Busch“ studiert und gehörte danach zum Ensemble des Theaterhaus Stuttgart…

… inzwischen unterrichtet sie an der „Ernst Busch“. Diese Innensicht ist eine der Stärken dieses Dokumentarfilms, dem es gelingt, eine sehr komplexe und lange Geschichte einer Institution knapp zusammenzufassen und kurzweilig zu erzählen. Denn der Umzug ist nur der aktuelle Aufhänger. Eigentlich geht es um die Institution an sich, die hier einer Revision unterzogen wird. Die Schauspielschule „Ernst Busch“ war eine der ersten und gehört seit fast 70 Jahren zu den renommiertesten deutschsprachigen Schauspielschulen. Dabei konzentriert sich Anne Osterloh vor allem auf die 1980er Jahre in DDR, den Neuanfang nach der Wiedervereinigung, als sich „Ernst Busch“ auch für Schauspielschülerinnen und -schüler aus dem Westen öffnete und aktuell den Umzug in den Neubau in Berlin Mitte. Sie porträtiert eine Schule mit Widerstandsgeist, Haltung und dem Willen zu kämpfen. Seit der Wende musste die Schule um ihre Existenz bangen, sollte fusioniert werden und auch der Neubau konnte bei der Politik nach fast 20jähriger Planung nur durchgesetzt werden, weil sich die Studierenden massiv gewehrt haben, als der geplante Neubau gestrichen werden sollte. Sie besetzten den Bauplatz und demonstrierten mit originellen Aktionen für die Zukunft ihrer Schule.

Bitte nach Mitte 04

Mit dem Slogan „Bitte nach Mitte!“ waren sie erfolgreich, 2018 ein neues Gebäude im Zentrum der Stadt zu bekommen. Leander Hausmann fasst es zusammen in der Feststellung: „Diese Schule hat sich tapfer und aufrecht durch alle Zeiten geackert.“ Er ging übrigens in den 1980er Jahren gelassen in die Aufnahmeprüfung, da er mit seinem Freund sonst in den Westen gegangen wäre. Andere nutzen Gastspiele in Westberlin, um sich abzusetzen – trotz Überwachung durch die Stasi, die an der Schule gut vertreten war. Allerdings stehen nicht die aktuellen Schauspielklassen im Fokus, sondern prominente Absolventen wie Lars Eidinger, Nina Hoss, Davis Striesow, Claudia Michelsen, Leander Hausmann oder Mark Waschke, die Anekdoten aus dem Studium ebenso erzählen wie die Bedeutung, die die Ausbildung an der „Ernst Busch“ für sie hatte. Die besondere Qualität der Ausbildung hätte nach meinem Empfinden noch etwas vertieft werden können, denn im Gegensatz zu anderen Schulen gibt es eine feste Idee, was im Studium vermittelt werden soll.

1987 gab es ein Gastspiel der damaligen Schauspielklasse am kurz zuvor gegründeten alternativen Theaterhaus in Stuttgart Wangen – natürlich mit einem Stück von Bert Brecht. Daraus entwickelte sich die Idee, zusammen ein Stück zu entwickeln zum Mauerfall. Die Geschichte überholte diese Idee, doch Werner und Gudrun Schretzmeier nutzten die Chance, von der Landesregierung ganz schnell ein Budget zu bekommen für ein gemeinsames Stück mit der Schauspielschule „Ernst Busch“, nämlich Brechts „Dreigroschenoper” unter der Regie von Peter Schroth und Peter Kleinert aus Ostberlin.  

„Bitte nach Mitte!“ ist ein Dokumentarfilm der Stuttgarter Produktionsfirma Moving Angel von Birgit Baumgärtner und Jean Christophe Blavier, der auch maßgeblich für die Bildgestaltung zuständig war. Dabei ist er oft nah dran und die Interviews der Regisseurin Anne Osterloh werden nicht in einer Standardauflösung, sondern eher individuell aufgenommen. Die Drohnenaufnahmen helfen bei der geografischen Verortung des alten Schulgebäudes und des Neubaus. Der Film entstand in Zusammenarbeit mit dem RBB und wurde von der MFG Filmförderung Baden-Württemberg unterstützt.

Bitte nach Mitte 02

image_pdfAls PDF speichernimage_printDrucken
Kay Hoffmann
Dr. Kay Hoffmann ist Studienleiter Wissenschaft im HDF und Gesamtkoordinator des DFG-Projekts „Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1945-2005“. Zusätzlich ist er seit langem Kurator der erfolgreichen DOK Premieren in Ludwigsburg.
Facebook
Twitter

Dies könnte Sie auch interessieren:

TV-Tipp 25.1.: Ein Nazi fährt nach Palästina

Es ist einer der besten Dokumentarfilme der letzten Jahre und vielleicht der klügste über das Weiter- und Zusammenleben von Juden und Deutschen hier und in Israel: Arnon Goldfingers »Die Wohnung« erzählt mit dem Blick von heute die fast unglaubliche Geschichte einer jüdischen Familie in der Zeit der Nazidiktatur und ihre Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen. Der SWR zeigt den vielfach prämierten Film am Donnerstagabend.

Kinotipp: Auf der Suche nach Ingmar Bergman

Er wäre nun also 100 Jahre alt geworden. Dieser Satz ist stets Arbeitsauftrag für Dokumentationen und Biografien jeglicher Art. Im Fall des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman, dieses einzigartigen Genies des europäischen Autorenfilms, hätte es des Anlasses gar nicht bedurft. Denn über Bergmann kann man nie genug erfahren und an seine über 40, heute selten gespielten Filme zu erinnern, ist kulturelle Pflicht. Als ganz persönliche Aufgabe allerdings sah es Margarethe von Trotta an. Sie weilt »Auf der Suche nach Ingmar Bergman« und macht daraus einen Dokumentarfilm, der vor allem dann gut ist, wenn er nicht dokumentarisch sein will.

Leipziger Festivalchefin wechselt 2020 nach Bologna

Nur kurze Zeit nach Ende des diesjährigen DOK Leipzig-Festivals kommt die nächste Meldung von dort: Festivaldirektorin Leena Pasanen wird sich Ende nächsten Jahres vom Leipziger Dokumentar- und Animationsfilmfestival verabschieden. Seit ihrer Amtsübernahme im Jahr 2015 hat die Finnin das traditionsreiche Festival als eines der wichtigsten in Europa weitergeführt.

Doku-Special: Ein Jahr nach der Flut im Ahrtal
Im Juli 2021 ereignete sich die schwere Flutkatastrophe, die vor allem in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen wütete. Mehrere Dokus beleuchten die Hintergründe der schlimmen Geschehnisse und zeigen, wie das Leben im Ahrtal ein Jahr danach aussieht.