Regina Schilling wird in diesem Jahr mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet für ihren phänomenalen Dokumentarfilm »Kulenkampffs Schuhe“. Er hatte bereits den Deutschen Fernsehpreis und auf der Duisburger Filmwoche den 3sat-Dokumentarfilmpreis gewonnen. In ihrem Film erzählt sie ein Stück deutscher Fernsehgeschichte, nämlich die Unterhaltungsshows der 1960er und 1970er Jahren mit Altmeistern wie Hans-Joachim Kulenkampff, Hans Rosenthal und Peter Alexander.
Sie verknüpft es geschickt mit ihrer Familiengeschichte und ihren persönlichen Erinnerungen. Aber zugleich macht sie deutlich, dass es selbst in den Unterhaltungssendungen immer wieder Hinweise gab auf die Kriegserlebnisse und den Nationalsozialismus. Das Politische im Privaten und das Private im Politischen. Es ist eine zero one Produktion im Auftrag des SWR (Simone Reuter) und in Koproduktion mit dem HR (Sabine Mieder).
Es ist eine wahre Meisterleistung diese Momente gegen die Verdrängung und Tabuisierung in dem Archivmaterial gefunden zu haben. Sie eröffnet eine neue Sicht auf das westdeutsche Unterhaltungsfernsehen. Es war angetreten, eine ganze Nation von ihren Kriegstraumata zu therapieren – mit Heile-Welt-Fernsehen. Dass aber Macher wie Publikum auch eine dunkle Kriegsvergangenheit verband, wurde zu dieser Zeit noch ausgespart. Auf vielfach verschlungenem Weg findet sie Zugang zu Helden und Vorbildern, erzählt von Kriegsschuld und vom großen Vergessen, vergleicht Quizshows und Burn-outs und bewahrt dabei einen stets subjektiven Blick. Genau drei Mal ist der zentrale Satz in diesem Dokumentarfilm zu hören: »Und sie werden nicht mehr frei ein ganzes Leben.« Gesprochen hatte ihn einst der große Verführer Hitler 1938 in einer Rede über die deutsche Jugend.
Für Regina Schilling wird dieses fürchterliche Zitat zu einem Stigmata, das ihren Vater wie auch eine ganze Generation an deutschen Männern (und Frauen) begleitete. Von dem, was sie in ihrer Kindheit und Jugend erlebten, was sie danach ein Leben lang verschwiegen (so wie Schillings Papa) oder in Witze pressten (wie Kulenkampff), in Interviews bearbeiteten (wie Rosenthal) oder mit Schlager-Zucker-Guss verkleisterten (wie Peter Alexander), von dem also, was in ihnen verborgen blieb, aber sie nie mehr verließ, handelt dieser Film.
Unterhaltung statt Aufarbeitung, Erholung statt Erinnerung. Wir sind ja nun wieder wer – aber wollen wir wirklich wissen, wer wir davor waren? An der Geschichte des Vaters, wie Kulenkampff und Rosenthal im Jahre 1925 geboren, bricht Regina Schilling Politik und Zeitgeschichte. Im Kleinen wird Großes auf einmal verständlich: Mit Bier, Wein und Kindern im Schlafanzug wird zum Zwecke der Erholung nach dem Tagewerk die Amnesie kultiviert. Es darf geklatscht werden! Wie Regina Schilling das erzählt, auf verschlungenen Pfaden, die über viele Umwege führen, mit einer sich verästelnden, aber nie unübersichtlichen Fülle, wie es ihr dabei gelingt drei, vier Jahrzehnte Nachkriegsdeutschland zu erklären, das ist ein geradezu irres Unterfangen. Immer wieder findet die Filmemacherin Balance über die persönliche Erinnerung an die eigene Kindheit und die Eltern, die sich im Drogeriegeschäft abrackerten, den Vergleich zu den Unterhaltungsshows, die zum Eckpfeiler der Familie wurden. Die großen Quizmaster wie Kulenkampff und Rosenthal sind Begleiter, dann Freunde und irgendwann, als der Vater stirbt, an seiner statt auf einmal Beschützer.
Regina Schilling hat zuvor schon beeindruckende Dokumentarfilme gedreht. Über den Missbrauch an der Odenwaldschule zum Beispiel. Oder unter dem Titel »Titos Brille« ein Erinnerungsstück, das die Balkangeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg auf humorvolle Weise zu erzählen wusste. In »Kulenkampffs Schuhe« gelingt ihr ein kleines, großes Wunder. Wie sie aus der Flut der Shows der 1960er und 1970er Jahre immer genau die richtigen Stellen auswählt, die sie benötigt, um die große Geschichte über Schuld, Trauma, Vergessen und Vergeben und zugleich ihre eigene Familienhistorie zu erzählen, das ist schlichtweg atemberaubend.
SWR-Intendant Peter Boudgoust würdigt diese Leistung: “Ich freue mich aufrichtig, dass sich unsere Qualität in so vielfältiger Weise behaupten konnte. Nun auch mit dem Grimme-Preis geadelt, ist »Kulenkampffs Schuhe« ein bewegender Beleg für den Wert unserer öffentlich-rechtlichen Unterhaltung für die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Der Film erzählt deutsche Zeitgeschichte, hebt dabei die Schätze unseres Fernseharchivs und belebt sie auf denkbar kluge und feinsinnige Art und Weise.“
Kay Hoffmann, Thomas Schneider (†)