Filmstill aus White Angel - Das Ende von Marinka

Zerstörte Heimat: WHITE ANGEL – DAS ENDE VON MARINKA

Polizist Vasyl Pipa dokumentiert seine Arbeit seit dem russischen Überfall auf die Ukraine mit einer Helmkamera. Arndt Ginzel hat aus dem Material einen Film gemacht, der DOK Leipzig 2023 eröffnet und am 19.10.23 in den deutschen Kinos startet.

CONTENT WARNUNG: Dieser Artikel und der Dokumentarfilm WHITE ANGEL – DAS ENDE VON MARINKA behandeln Themen wie Gewalt und Tod.
Diese können Trigger sein und/oder (re)traumatisierend wirken. 

Die Retter von Marinka

Marinka war bis zu seiner nahezu vollkommenen Zerstörung eine Kleinstadt mit rund 10.000 Einwohner:innen im Osten der Ukraine. Als der Krieg weiter fortschreitet, gibt es keinen Rettungsdienst, der den Menschen vor Ort zu Hilfe eilen kann. Transporte ins Krankenhaus, die Bergung von Verstorbenen und die Evakuierung von Wohnhäusern sind fortan Aufgabe der Polizei. Vasyl und seine Kollegen müssen im Eilverfahren lernen, wie man Erste Hilfe leistet, Schusswunden versorgt und in Extremsituationen die richtigen Worte findet. Immer mit dabei ist ihr weißer Rettungswagen, den die Bewohner:innen der Stadt „White Angel“ taufen.

Credits: Buch & Regie: Arndt Ginzel, Kamera: Gerald Gerber, Produktion: GKD-Journalisten, ZDF, Schnitt: Stefan Eggers, Guntram Schuschke, Annina Wolf, Musik: Hans Henning Ginzel, Verleih: Weltkino

Standing Ovations beim Festival-Screening in der Schauburg

Am 10.10.23 sah Vasyl mit seinen Kollegen Rustam und Artjom den fertigen Dokumentarfilm in Leipzig das erste Mal auf großer Leinwand. Um im Kino mit dabei sein zu können, nahmen die Polizisten eine Anfahrt von rund zwei Tagen auf sich. An der polnisch- ukrainischen Grenze wurden sie vom Team des Regisseurs abgeholt und nach Deutschland gefahren. Das Publikum würdigte ihre aufopfernde Arbeit mit langem Applaus und Standing Ovations. Sichtlich bewegt berichteten sie von ihrem Einsatz:

„Jeden Tag sterben Menschen in der Ukraine. Jeden Tag werden Städte und Dörfer zerstört. Was Sie gesehen haben, ist für uns kein Film, sondern unser tägliches Leben. […] Für uns war es sehr schwierig, aber wir hatten keine Wahl. Es sind unsere Menschen und wir haben versucht, diese Menschen zu retten.“

Eroeffnung DOK Leipzig mit Film White Angel - Das Ende von Marinka
Christoph Terhechte (l.) und Arndt Ginzel (r.) bei der Eröffnung von DOK Leipzig
Filmstill aus White Angel - Das Ende von Marinka
Ein Transport ins Krankenhaus

„Das muss man zeigen!“

Arndt Ginzel, der für seine investigativen Reportagen bekannt ist, aber zuletzt vor allem als Kriegsreporter aus der Ukraine berichtete, bedankt sich bei seinen Protagonisten. Ohne sie wäre der Film nicht möglich gewesen:

„Ich war fürs Fernsehen Ende Februar 2023 in der Ukraine und dort mit dem White Angel Team unterwegs […] Als wir abends zurück auf dem Polizeirevier waren, hat Vasyl Aufnahmen seiner Helmkamera für mich rausgesucht. Und irgendwie gab er mir dann die ganze Festplatte mit vierzig Stunden Material. Als ich dann zurück in Leipzig war und anfing zu sichten, wurde mir klar, das muss man zeigen! Egal was ich in der Ukraine gemacht habe als Reporter, es hatte nie diese Unmittelbarkeit wie diese Bilder. Vasyl hat mir dann am Telefon erklärt, er möchte, dass die Menschen das sehen, was er mit eigenen Augen gesehen hat.“

Vom Nicht-Gehen-Wollen

Ein Mann, der seine Tiere nicht zurücklassen kann. Ein anderer, der trotz Bombenalarm in der Küche sitzen bleibt. Sein Haus hat er mit den eigenen Händen gebaut, es wird schon standhalten. Szenen wie diese reihen sich in WHITE ANGEL – DAS ENDE VON MARINKA aneinander und ergänzen die medialen Eindrücke des Ukrainekriegs, die sonst eher Menschen auf der Flucht zeigen, um eine neue Perspektive.

Interview mit Arndt Ginzel

Christine Schäfer vom Haus des Dokumentarfilms spricht mit Arndt Ginzel über seine Arbeit am Film und den thematischen Fokus.

„Im Material fielen vor allem Menschen auf, die im Sommer und Herbst 2022 evakuiert werden mussten. Die mobilen, jungen Menschen sind vielfach schon im März oder April 2022 gegangen. Es waren also die Ärmsten der Armen, die hilflosesten Menschen und auch die, die sich sehr bewusst entschieden haben zu bleiben und sich diesem Risiko auszusetzen. Das waren Personen, die mehrfach von dem Evakuierungsteam angefahren wurden und die am Ende mit ihren Hoffnungen und Erwartungen gescheitert sind. Also einige haben wirklich gedacht, es geht vorüber.“

Filmstill aus White Angel - Das Ende von Marinka
Filmstill aus White Angel - Das Ende von Marinka

Recherche und Dreh in der Ukraine

Die Aufnahmen von Vasyl´s Helmkamera kombiniert der Regisseur mit Interviews, in denen sowohl das Rettungsteam als auch die Überlebenden zu Wort kommen. Um die Menschen ausfindig zu machen, bedarf es einer umfangreichen Recherche in Empfangszentren und Krankenhäusern. Da zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar ist, wie der fertige Film aussehen wird, muss Ginzel in Gesprächen verschiedene Themen abdecken. Mit Vasil führt er ein Interview, das 2,5 Tage dauert. Die Sicherheitslage vor Ort bleibt währenddessen unüberschaubar.

„Wir hatten ein Hotel, in dem wir unser Basislager eingerichtet haben. Wir haben dann dort ein Zimmer für die Interviews komplett entkernt. Das war auch weit genug von der Frontlinie entfernt, es waren 40 Km etwa, wir hatten Metallplatten draußen an den Fensterscheiben, aber so sicher, wars da einfach nicht. Da schlug dann eben auch eines Tages, das war der Tag, an dem wir mit Rustam gedreht haben, ein Artilleriegeschoss neben der Straße ein und das hat gezeigt, die Menschen dort sind eigentlich nirgends wirklich sicher.“

Vergesst diesen Krieg nicht

WHITE ANGEL – DAS ENDE VON MARINKA zeigt die letzten Wochen einer Kleinstadt, die auf perfide Weise dem Erdboden gleich gemacht wurde. Die Menschen, die das Evakuierungsteam nicht zum Verlassen ihrer Häuser überreden konnte, leben heute vermutlich nicht mehr. Die schreckliche Zerstörung lässt einen fassungslos zurück. Gleichzeitig muss man den Mut und die Kraft des Evakuierungsteams stark bewundern. Vasyl, Rustam und Artjom bringen sich immer wieder aufs Neue in Lebensgefahr, um anderen zu helfen. Sie geraten dabei unter Beschuss und werden verletzt. Der Film ist deshalb vor allem ein großes Plädoyer für Menschlichkeit und erinnert uns an das, was die Polizisten auch beim Screening in Leipzig lautstark betonen: „Vergesst diesen Krieg nicht, vergesst die Ukraine nicht.“

Filmgespraech DOK Leipzig Film White Angel - Das Ende von Marinka
Filmgespräch nach dem Screening von WHITE ANGEL – DAS ENDE VON MARINKA
Filmstill aus White Angel - Das Ende von Marinka
Die Stadt Marinka wird evakuiert
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Picture of Christine Schäfer
Christine Schäfer arbeitet seit Mai 2023 im Haus des Dokumentarfilms. Sie verfasst Artikel für dokumentarfilm.info und unterstützt Veranstaltungen wie die DOK Premiere. Außerdem kuratiert sie Filmprogramme sowie Online-Gesprächsformate.
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