Amsterdam während des IDFA 2017 © HDF/Astrid Beyer

IDFA 2017: Beobachtungen rund ums Amsterdamer Doku-Festival

Das weltweit größte Dokumentarfilmfestival, das IDFA in Amsterdam, hat sich einmal mehr als Festival mit besonderem Charme und wichtigem Programm bewiesen. Festivalbeobachtungen unserer Dokville-Kuratorin Astrid Beyer, die der Reise in den Asterdamer Herbst erneut Vieles und vor allem viele gute Filme abgewinnen konnte.

Dichtes, hochkarätiges Programm in Amsterdam 

Für viele Fachbesucher ging das IDFA bereits ein paar Tage früher zu Ende. Das Forum, der internationale Co-Finanzierungs- und Co-Produktionsmarkt innerhalb des Festivals, hatte getagt und am Abend wurden in der Stadsschouwburg die Preise in den unterschiedlichen Kategorien verliehen. Doch auch an den restlichen Tagen bot das Programm Einiges und die Amsterdamer wissen das stets zu schätzen: Selbst in den Nachmittagsvorstellen gesellen sich dokumentarfilminteressierte und kundige Bürger zu den Fachbesuchern und am Abend sind die Säle voll. Für mich war es der vierte IDFA Besuch und es ist jedes Mal ein Erlebnis.

Was macht das IDFA so attraktiv? Na ja, könnte man sagen, Amsterdam hat Charme. Schöne Grachten, noch schönere Häuser aus der Blütezeit der Stadt im 17. Jahrhundert, lässige Amsterdamer, internationales Flair, ein hochkarätiges, dichtes Programm, sowohl bei den Filmen in den verschiedenen Kategorien wie auch im Begleitprogramm. So viele international besetzte Fachpanels findet man selten, die kreative Energie scheint unendlich. Und, und, und. Das Wetter ist meistens nieselig-grau, ein Grund mehr, im Kino zu bleiben.

Die Themen sind weit gestreut. In diesem Jahr sah man viele personenzentrierte Dokumentarfilme, die sich am Einzelbeispiel mit dem Zustand unserer Welt auseinandersetzen. Krieg und die Zerstörung des Planeten sind die dominanten Inhalte. In allen Kategorien, ob Lang-, Mittel-, Kurz-, Interaktivfilm oder VR Erzählung.

Bei Al-Nusra Kämpfern in Syrien

Der syrische Regisseur Talal Derki, dessen »Return to Homs« das Internationale Dokumentarfilmfestival im Jahr 2013 eröffnete, ist zurück mit seinem neuen Film »Of Fathers And Sons«, der im Wettbewerb für den Langfilm seine Weltpremiere feierte. Mittlerweile lebt Derki in Berlin, aber seine Herkunft und die Zerstörung seiner Heimat Syrien lassen ihn nicht los und so zog er 2014 erneut los. Undercover, getarnt als jüngst konvertierter Filmemacher und Fotograf mit Bewunderung für islamistisches Gedankengut, verbrachte er zwei Jahre in einer radikal-islamistischen Familie. Talal Derki begleitet den Al-Nusra-Kämpfer Abu Osama und seine acht Söhne im Alter von zwei bis 14 Jahren. Frauen kommen in diesem Film marginal vor. Als Hände, die den Männern Essen servieren oder Mädchen, die von den Söhnen mit Steinen beworfen werden, sobald sie aus dem Haus treten. Derki beobachtet, er kommentiert nicht. Was er filmt wird zunehmend bedrückend, unerträglich. Einerseits geht Abu Osama liebevoll mit seinen Söhnen um. Doch so herzlich er auch sein kann, so unerbittlich ist er in seinen Erwartungen, dass auch sie Al-Nusra-Kämpfer werden und in seiner Bestrafung, wenn sie seinem Willen nicht gehorchen. Und seine Söhne beten ihn an. So wird der Zuschauer Zeuge, wie Kinderseelen mit Hasspredigten zerbrochen werden, im Kampf für das Kalifat. Schule und Bildung spielen in dieser Gesellschaft keine Rolle. Osamas Gutenachtgeschichten bestehen aus der Glorifizierung des Martyriums, aus der Verherrlichung von Gewalt, das Allahu Akbar als Antwort auf Alles. Was kann aus Kindern werden, die in zerstörten Orten spielen, deren Leben aus Hass und Gewalt besteht, für die der Tod alltäglich ist? Wie kann hier ein neues Syrien entstehen? Ein Film, der einen sprachlos zurücklässt.

Szene aus »Of Fathers And Sons« © Talal Derki

Szene aus »Of Fathers And Sons« © Talal Derki

Sklaverei mitten in Europa

Ebenfalls im Wettbewerb der »Feature-length documentary« und auch eine Weltpremiere war Bernadett Tuza-Ritters erster Langfilm »A Woman Captured«. Die ungarische Filmemacherin kam zufällig zu ihrem Thema über moderne Sklaverei mitten in Europa. Sie begegnete einer Frau, die damit angab, Sklaven zu halten. Tuza-Ritter interessierte sich für diese Sklaven und so begegnete sie Marish. Sie arbeitet seit zehn Jahren bei Eta, ist 52 Jahre alt, zahnlos und sieht aus wie 70+. Warum Marish für Eta ohne Lohn, ohne Zimmer arbeitet, warum sie es zulässt, dass man sie beleidigt, herumkommandiert und schlägt, warum sie nicht wegläuft und warum sie keinen Kontakt zu ihren Kindern hat, erschließt der Film nur teilweise und unzureichend. Zu sehr stehen die Geschichte von Marish und die zwischen ihr und der Filmemacherin im Zentrum. Wichtige Fragen werden nicht gestellt. Doch der Film rückt ein wichtiges Thema in den Mittelpunkt: geschätzte 1,2 Millionen Menschen arbeiten heute, in Europa, in unterschiedlichen Formen der Sklaverei. »A Woman Captured« hat sogar ein Happy-End. Marish gelingt es, mit emotionaler Hilfe von Seiten der Filmemacherin, zu entkommen. Sie beginnt ein neues Leben, zusammen mit ihrer Tochter und Enkeltochter.

And the winners are …

Der Hauptpreis für den langen Dokumentarfilm ging an »The Other Side Of Everything« von der jungen, serbischen Filmemacherin Mila Turajlic. Auch diese Produktion ist ein Erstlingswerk im Grand Format. In der HBO/WDR/arte-Koproduktion erzählt Mila Turajlic anhand einer in zwei Teile unterteilten Belgrader Wohnung die Geschichte ihrer Familie und die ihres Landes in politischem Aufruhr. Mitten im Wohnzimmer zwischen Bücherregalen ist eine hohe Tür, die zu dem anderen Apartment führt und seit siebzig Jahren verschlossen ist. Vor siebzig Jahren, mit Beginn des Tito-Regimes, wurde die großbürgerliche Wohnung der Turajlic in zwei Teile geteilt, um einer weiteren Familie Wohnraum zu geben. Bevor sich die Tür am Ende des Films öffnet, geht es in dem Dialog zwischen der Filmemacherin und ihrer Mutter, einer prominenten, politischen Aktivisten, um die Zerrissenheit Serbiens, um die Geschichte der vergangenen siebzig Jahren und darum, ob es überhaupt Sinn macht, sich angesichts des neuen Nationalismus für das Land zu engagieren. Einen Sendetermin für den Dokumentarfilm gibt es noch nicht. Zuvor wird er auf Festivals laufen, denn ein Preis bei IDFA bedeutet auch immer ein Anschub für weitere große, internationale Festivals. Weltpremiere war in Toronto und am 29. November steht die Premiere in Belgrad an. Sicherlich ein Lackmustest für »The Other Side Of Everything«, denn er wird die Zuschauer in zwei Lager spalten. Die, die ihn als Nestbeschmutzer ansehen werden und die, die sich von den politischen Ansichten von Srbijanka Turajlic, Milas Mutter, vertreten fühlen.

Ernste Themen überwogen in diesem Jahr. Doch in der Kurzfilm-Kategorie gewann »As We’re Told« von Erik Holmström und Fredrik Wenzel den Hauptpreis. Humorvoll widmet sich der Film der unpopulärsten Regierungsbehörde Schwedens, dem Arbeitsamt. In diesem kreativen Dokumentarfilm enthüllen Fallbearbeiter, Sachbearbeiter und Psychologen, wie das schwedische Beschäftigungssystem versagt. Sie beschweren sich über unangemessene Software und verblüffende Fehlermeldungen, exzessive Fallzahlen und demoralisierende Ergebnisse. Im Durchschnitt hilft jeder Fallarbeiter nur 10 Personen pro Jahr zu einem Job und nur einer von 10 Kunden findet neue Arbeit. Um die Anonymität der Befragten zu gewährleisten, werden sie alle von Papppuppen repräsentiert. Dank sichtbarer Puppenspieler, ausdrucksstarker Augen und erkennbarer Gesten wirken diese Puppen schnell wie echte Menschen. Das Ergebnis ist eine faszinierende und äußerst komische Studie über menschliche Strategien, um in einer irrationalen Bürokratie zurechtzukommen.

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Picture of Astrid Beyer
Astrid Beyer kuratiert seit mehr als zehn Jahren den Branchentreff DOKVILLE für das Haus des Dokumentarfilms und setzt Veranstaltungen wie die Meisterklassen sowie Online-Gesprächsformate um.
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