ulrike ottinger

Berlinale Kamera und erste filmische Eindrücke

Mit dem speziellen Preis zeichnet das Festival Persönlichkeiten und Institutionen aus, die sich um das Filmschaffen besonders verdient gemacht haben. Zusätzlich bot das Programm erste interessante Filme. 

Ulrike Ottinger und ihr Lebenswerk

Mit diesem speziellen Preis zeichnet das Festival Persönlichkeiten und Institutionen aus, die sich um das Filmschaffen besonders verdient gemacht haben. Die Statue hat die Form einer Filmkamera. Mit Ulrike Ottinger wird eine Künstlerin, eine Filmemacherin, eine Sammlerin und eine Weltbürgerin ausgezeichnet, die auf zahlreichen Reisen in die Welt auch ihre ethnografischen Interessen befriedigte. Regelmäßig organisiert sie Filmreihen, Ausstellungen und Installationen zu ihrem Gesamtkunstwerk.

Laudatio von Yoko Tawada 

Die neuen Berlinale Führung um Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian betonten die lange Zusammenarbeit mit ihr in unterschiedlichen Positionen und sie als würdige Nachfolgerin der Pioniere des Kinos. In ihrer persönlichen Laudatio lobte Yoko Tawada, dass Ulrike Ottinger offen an ihre Filme über fremde Länder heranginge und übliche Klischees vermeide. Sie inszeniere nicht, sondern arrangiere sich mit der Natur und den Menschen, wie sie sie bei ihren Dreharbeiten antreffe. So sei ihr Film »Unter Schnee« (2011) unter sehr schwierigen Wetterbedingungen entstanden. Im Schneideraum würden die Unmengen an Material zu spektakulären Kompositionen verdichtet. Gerührt bedankte sich Ottinger für den wunderbaren Preis: »Vielleicht erwächst daraus das Wunder, mein Drehbuch mit bewegten und bewegenden Bildern zu einem neuen Film werden zu lassen, was mein größter Wunsch ist«.

Erst veröffentlicht: »Paris Calligrammes«

Sehr vielschichtig ist ihr neuer Dokumentarfilm »Paris Calligrammes«, der im Haus der Berliner Festspiele als Weltpremiere gezeigt wurde. Es ist eine Erinnerung an ihre Zeit in Paris in den 1960er Jahren, als sie versucht als Künstlerin Fuß zu fassen und ihren Weg zu finden. Sie trifft dort auf Intellektuelle, Künstler*innen, Filmemacher*innen: So eröffnet sie in ihrem Werk das Kaleidoskop der Einflüsse, denen sie in Paris unterworfen war. Es war eine pulsierende internationale Metropole und die junge Ulrike Ottinger ließ sich darauf voll und ganz ein. Ob nun in der Literatur, der Philosophie, der Kunst, der Musik oder dem Film. Auch die Politik, die Phase der Ent-Kolonisierung und doch auch den kolonialen Verstrickungen der Grand Nation, das öffentlich verschwiegenen Massaker an Algeriern mitten in Paris und der Generalstreik sowie die Studentenprotesten spielen eine nicht unerhebliche Rolle. In zehn Kapiteln präsentiert sie ihre Erfahrungen mit unglaublich spannendem Archivmaterial, das sie mit ihrer Editorin Anette Fleming kongenial gestaltet hat. Der Rhythmus springt über, obwohl es technische Störungen gab und das Bild in der ersten Hälfte immer wieder stehen blieb und zum Schwarzbild wurde. Ein Fehler im Server, wurde erklärt. Der Film, der Beachtung verdient, wurde federführend von zero one film produziert. Der engagierte Kölner real fiction Verleih startet ihn kurz nach der Berlinale am 5. März in den deutschen Kinos.


Vorführung »Frem« (Viera Cakanyová)

Mit hohem Anspruch und atemberaubenden Bildern arbeitet auch Viera Cakanyová in »Frem«, der sich selbst als »Requiem for Homo Sapiens« bezeichnet. Auch bei dieser Vorführung gab es sehr spürbare technische Probleme mit Pixeln im Bild und einer äußerst experimentellen Tonspur mit Aussetzern und Tonschwankungen. Gedreht wurde auf der King George Island in der Antarktis, doch der politische Anspruch damit die Klimakrise und die Grenzen anthropozentrischen Denkens zu zeigen, wurden für mich nicht erfüllt. Vielmehr wurden schöne Bilder mit klassischer Musik geboten.

Johnny Depp als Publikumsmagnet – »Minamata« 

Viel direkter politisch war der amerikanische Spielfilm »Minamata« von Andrew Levitas mit Johnny Depp in der Rolle eines amerikanischen Fotografen, der einem japanischen Fischerdorf hilft. Sie protestieren schon lange gegen die Quecksilber-Vergiftung ihrer Gewässer durch einen großen Chemiekonzern, der viele der Bewohner gesundheitlich zerstört hat. Sie leiden unter der Vergiftung und sind Todgeweihte. Die Veröffentlichung der Fotos von W. Eugene Smith, die er gegen alle Widerstände machen und im Life-Magazin veröffentlichen kann, sorgten für eine internationale Aufmerksamkeit. Der Chemieriese knickt ein. In den inszenierten Spielfilm sind immer wieder die echten Fotos von Smith und auch 16 mm Aufnahmen der Proteste eingeschnitten. Der Auftritt von Johnny Depp sorgte für riesen Starrummel und ein immenses Aufgebot von Fans und Autogrammjäger*innen.


Die Automobilkrise und »Automotive«

automotive ORG bearb

Die reale Arbeitswelt wird zu selten in Filmen gezeigt. Im Moment ist insbesondere die Automobilindustrie gefordert wegen der Digitalisierung, dem Wechsel in die Elektromobilität und natürlich dem Dieselskandal als immensen Imageschaden. Von daher hat Jonas Heldt von der Münchener Filmhochschule mit »Automotive« ein spannendes Thema gewählt, das er mit seinem Team beeindruckend umsetzt. Er stellt die Zeitarbeiterin Sedanur, die gerne im Logistikzentrum von Audi in Nachtschicht arbeitet, Eva gegenüber, die als Headhunterin nach den gesuchten hochqualifizierten Facharbeiter*innen jagt. Zwei Seiten einer Medaille, bei der die Zukunft ungewiss ist. Nachdem Sedanur bei Stellenstreichungen bei Audi zu den ersten gehört, die freigestellt wird, muss sie richtig darum kämpfen, bei der Besserung der Auftragslage wieder in der Nachtschicht arbeiten zu können – unbefristet. Jetzt kann sie sich ein schnelles Auto leisten, doch die Automatisierung der Produktion schreitet unaufhörlich voran. Bei Eva löste die Frage des Verhältnisses von Arbeit und Leben eher Unverständnis aus, selbst wenn sie Ausstiegspläne mit ihrer Partnerin hat. Die Bilder zeigen sehr deutlich, dass sich unsere Arbeit seit Jahren grundsätzlich verändert – und nicht nur in der Automobilindustrie.

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Picture of Kay Hoffmann
Dr. Kay Hoffmann war langjähriger Studienleiter Wissenschaft im HDF und Gesamtkoordinator des DFG-Projekts „Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1945-2005“. Zusätzlich ist er seit langem Kurator der DOK Premieren in Ludwigsburg.
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