Mann sitzt nachdenklich vor einem Waschbecken bei einem Frisör -Filmstill aus dem Dokumentarfilm "Der Kuaför aus der Keupstraße"

»Der Kuaför aus der Keupstraße«

Zehn Jahre lang wollte niemand hören, dass die Opfer, die 2004 bei einem Bombenanschlag auf einen Friseursalon in Köln wirklich Opfern waren. Stattdessen hatte man sie zu Verdächtigen erklärt. Über diesen Skandal bei den Ermittlungen, die erst viele Jahre später bei den Enthüllungen gegen den NSU zu Tage trat, hat Regisseur Andreas Maus den beeindruckenden Dokumentarfilm »Der Kuaför aus der Keupstraße« gemacht. Es geht dabei nicht nur um die Tat und ihre Folgen – sondern um Fremdenfeindlichkeit, die sich in unserem Land einen Weg bahnt. Manchmal mit Bombengewalt. 

Hintergründe des Dokumentarfilms

Am 9. Juni 2004 explodierte in Köln vor einem türkischen Frisörsalon eine Nagelbombe. 700 zehn Zentimeter lange Tischlernägel verwandelten sich in tödliche Projektile. 22 Menschen wurden verletzt. So infam der Bombenanschlag war, so skandalös war die polizeiliche Beweisaufnahme. Vorhandene Überwachungsvideos wurden nicht ausgewertet. Zuallererst wurden die Opfer verdächtigt und man sprach von Kontakten zur Schutzgeld- und Drogen-Mafia. Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily schloss einen rechtsradikalen Hintergrund explizit aus. Erst 2011 bei den Ermittlungen zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) stellte sich heraus, dass die Rechtsradikalen für den Anschlag verantwortlich waren.

Köln war dabei nicht die einzige Ermittlungspanne. Doch die Folgen der Bombe vergiftete das Klima in der Keupstrasse. Es wuchs das gegenseitige Misstrauen und die Verdächtigungen erschütterten das Leben im Kölner Stadtteil Mühlheim.

Eindringliche Bilder 

Nach der Vorführung des Dokumentarfilms bei unserer DOK Premiere im März 2016 entwickelte sich eine angeregte Diskussion mit dem Regisseur.

Auslöser für den Film waren Recherchen, die Maus für das ARD-Politmagazin Monitor gemacht hatte. So fand er die Ermittlungsakten und Verhörprotokolle und ihm war schnell klar, dass er daraus einen Kinofilm machen will – seinen zweiten nach »Ballada« (2009), einem Dokumentarfilm über den russischen Lada. Für den neuen Film war die größte Herausforderung, die Bewohner der Keupstrasse von dem Film zu überzeugen, da sie seit dem Bombenanschlag 2004 schlechte Erfahrungen mit den Medien gemacht hatten. Mit »Der Kuaför aus der Keupstrasse« waren sie sehr zufrieden, da es um sie und die traumatischen Erlebnisse geht.

Für den Kinofilm war Andreas Maus an einer ästhetisch anderen Form interessiert, die sich von seinen Arbeiten fürs Fernsehen unterscheidet. Mit seinem Kameramann Hajo Schomerus fand er sehr eindrückliche Bilder, beispielsweise von den fallenden Nägeln der Nagelbombe. In einer Halle hat er die Keupstrasse mit minimalistischen Mitteln nachempfunden, z.B. mit Kreidestrichen auf dem Boden wie in Lars von Triers »Dogville«. Dort lässt er die Vernehmungen von Schauspielern nachsprechen, die einen sehr sachlichen, emotionslosen Ton haben. Es wird deutlich, wie die Vernehmer versuchen, die Opfer in die Enge zu treiben und sie mit Gerüchten zu provozieren. Diese Abstraktion war ein bewusstes Stilmittel, das sehr gut funktioniert.

Es ist ein sehr leiser Film, denn nach dem großen Knall der Bombe lebten die Bewohner der Keupstrasse wie unter einer Glocke und mussten mit den Ereignissen und Verdächtigungen selbst zurechtkommen. Selbst nachdem 2011 klar wurde, dass eigentlich die rechtsradikale NSU für den Anschlag verantwortlich war, bekamen sie trotz aller Ankündigungen wenig Hilfe und Unterstützung.

Der WDR zeigte den im Frühjahr 2016 auch in den Kinos eingesetzten Dokumentarfilm am 10. Mai 2017 und hat ihn für sieben Tage als Videostream online gestellt.


»Der Kuaför aus der Keupstraße« (WDR-Mediathek)

(Video war laut Sender abrufbar bis 17.5.2017)

image_pdfAls PDF speichernimage_printDrucken
Kay Hoffmann
Dr. Kay Hoffmann ist Studienleiter Wissenschaft im HDF und Gesamtkoordinator des DFG-Projekts „Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1945-2005“. Zusätzlich ist er seit langem Kurator der erfolgreichen DOK Premieren in Ludwigsburg.
Facebook
Twitter

Dies könnte Sie auch interessieren:

Doku-Neuigkeiten aus der Mediathek
Ausgewählte Dokumentarfilme aus der Mediathek – für Sie aus dem Netz gefischt: OBON | Whitney – Can I BE Me | Another Reality und mehr.
»Herr Wichmann aus der dritten Reihe«

Zehn Jahre war es her, dass Regisseur Andreas Dresen den Lokalpolitiker Henryk Wichmann einen Monat lang während seines Wahlkampfs in der stabilen SPD-Hochburg begleitete. Für seinen zweiten Dokumentarfilm beobachtete Dresen den CDU-Politiker schließlich ein ganzes Jahr lang über insgesamt 30 Drehtage. Dabei entstand »Herr Wichmann aus der dritten Reihe«. Der rbb zeigte den Dokumentarfilm, der 2012 in den deutschen Kinos lief, am 4. Juli 2017 und danach bis 11. Juli 2017 in der Mediathek des Senders. Es ist fast schon ein sentimentaler Rückblick auf eine Zeit vor Pegida, AfD und russischen Wahlhackern - dafür aber mit Schreiadlern und nicht gebauten Radwegen.

in medias res: Newsletter zu Film und Kreativen aus der Region Stuttgart

Mit dem Thema Film beschäftigt sich in diesem Monat die Publikation »in medias res«. Dieser Newsletter der Kreativwirtschaft in der Region Stutgart ist sowohl in gedruckter Form wie auch digital erhältlich und stellt monatlich auf sechs Seiten Projekte vor und kommuniziert wichtige Termine. Schwerpunkte sind unter anderem das kommende Trickfilm Festival, Dokville sowie ein Rückblick auf die SXSW Interactive in Austin.

TV-Tipp 15.10.: Was aus der Utopie von Berg Fidel wurde

Der Traum von einer (Grund-)Schule, die allen Kindern mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten gerecht werden kann. Das war das Thema von »Berg Fidel - Eine Schule für alle«, einem Dokumentarfilm von Hella Wenders, die für diesen Film drei Jahre lang Schülerinnen und Schüler einer Schule in Münster begleitete. Sechs Jahre später wollte sie wissen, wie es weiterging mit David, Jakob, Anita und Samira: »Schule, Schule – Die Zeit nach Berg Fidel« ist am Montagabend, 0.20 Uhr, im Kleinen Fernsehspiel des ZDF zu sehen.