Meisterklasse mit Aelrun Goette: „Am Ende ist alles dokumentarisch“

„Ich glaube nicht an Antworten. Ich glaube an Fragen“, betont Aelrun Goette bei der Meisterklasse am 25.9.2020 im Haus des Dokumentarfilms. Was sie damit meint, kommuniziert die renommierte Regisseurin und Autorin erfrischend nahbar und direkt.

Aelrun Goette war und ist im besten Wortsinn kein Mensch, der ein Blatt vor den Mund nimmt. „Zeit, Hartnäckigkeit und Ehrlichkeit“ gibt Goette als Antriebsfedern ihres Schaffens an – egal ob sie dokumentarisch arbeitet oder fiktionale Stoffe dreht. Schon während ihrer Teenagerjahre in der ehemaligen DDR fällt sie durch ihre eigene Meinung als vermeintlich unbequeme „Systemsprengerin“ auf. Ihre Stasi-Akte: dick wie ein Buch, wie sie in der gut besuchten Meisterklasse im Haus des Dokumentarfilms erzählt. Erste Einträge bekommt sie bereits als Kind, später wird sie sogar von ihrer ersten großen Liebe bespitzelt.

Aelrun Goette bei der Meisterklasse im HDF © Elisa Reznicek/HDF

Unbequeme Themen …

Als man sie als junges Mädchen mit einem Aufnäher der Friedensbewegung auf der Jacke erwischt, fliegt sie von der Schule und startet in ein bewegtes Leben. Sie macht eine Ausbildung zur Krankenschwester, arbeitet in der Psychiatrie, jobbt als Model und wird irgendwann Begleiterin für straftätige Jugendliche in einer Justizvollzugsanstalt. Dort lernt sie Jeanette kennen – eine 15-jährige, die eine 13-Jährige zu Tode gequält hat. Über sie dreht Aelrun Goette ihren ersten Dokumentarfilm: „Ohne Bewährung – Psychogramm einer Mörderin“.

… und die Suche nach Antworten

„Ich will herausfinden, warum ich es überhaupt getan habe und untersuchen, warum ich auf einmal so aggressiv war“, sagt das ungemein kindlich wirkende Mädchen in einem Filmausschnitt, der man das Verbrechen auf den ersten Blick kaum zutrauen mag. Genau diese Frage nach dem Warum treibt auch Goette an. „Wenn man in eine solche Welt einsteigt, wird man mit extremen Ambivalenzen konfrontiert. Gut ist nicht gleich gut. Und böse nicht gleich böse.“, betont sie in der Meisterklasse, in der abgesehen von „Feldtagebuch – Allein unter Männern“ noch ein weiterer Dokumentarfilm über eine ähnlich schockierende Tat thematisiert wird.

In dem mit verschiedenen hochkarätigen Preisen wie dem Deutschen Filmpreis in Gold ausgezeichneten Dokumentarfilm „Die Kinder sind tot“ beschäftigt sich Aelrun Goette mit dem Leben und Umfeld einer Mutter, die ihre beiden Kleinkinder zwei Wochen lang allein in der Plattenbau-Wohnung zurücklässt. Die Beiden verdursten qualvoll. „Ich habe nicht verstanden, wie so etwas sein kann. Daher habe ich angefangen mich mit dem Prozess zu befassen“, sagt Aelrun Goette im Gespräch mit Astrid Beyer, die die Meisterklasse im Haus des Dokumentarfilms kuratiert.

Meisterklasse lädt dazu ein, sich eine eigene Meinung zu bilden

„Ein Grund, warum ich Filmemacherin geworden bin, ist, mich in Welten hineinzubegeben, die nicht meine sind. Ich möchte so intensiv wie möglich versuchen, diese aus der Innenperspektive zu betrachten und zurückzuspiegeln.“ Das sei, ohne Frage, mitunter sehr belastend gewesen. „Ich investiere sehr viel Zeit, öffne mich. Das ist eine Reise, die wir gemeinsam machen und aus der auch ich am Ende völlig verändert rausgehe.“ Und Goette ergänzt: „Die Herausforderung besteht zudem darin, in den Dialog mit dem Zuschauer zu kommen. Dass man ihn durch filmische Mittel dazu bekommt, die Schablone, die er hat, abzulegen und das Thema an sich heranzulassen. Ihn dazu einzuladen, selbst eine Meinung zu entwickeln.“ Vorgefertigte Antworten nach Schema F gebe sie in ihren Produktionen daher bewusst nie.

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Aelrun Goette: „Am Ende ist alles dokumentarisch“

Im zweiten Teil des Tages widmet sich die Meisterklasse den fiktionalen Produktionen mit Aelrun Goettes Handschrift. „Mich interessiert jedes Format – Hauptsache, es ist ein gutes Buch!“, bekräftigt sie gegenüber Astrid Beyer. „Ich hoffe aber, dass ich noch nicht durch bin mit dem Dokumentarischen.“ An der Kante zu diesem Genre befindet sich beispielsweise der Fernsehfilm „Keine Angst“ (Buch: Martina Mouchot), eine Art Romeo-und-Julia-Geschichte – nur dass hier nicht Verona, sondern ein Problemkiez mit hoher Kriminalitätsrate und schwierigen sozialen Verhältnissen der Ort des Geschehens ist. Den professionellen Cast ergänzen „Jungs von der Straße“, und auch sonst ist der Blick ungeschönt und teils durch harte Kontraste zwischen kleinen Momenten des Glücks und brutaler Wirklichkeit kaum auszuhalten. Doch wie gelingt ihr dieser Spagat zwischen Fernsehkost und Realismus? „In dem Moment, in dem man sich während der Arbeit mit den Schauspielern verbindet, kann einem nichts mehr passieren. Der Satz ‚Please don‘t act‘ kommt ja nicht von ungefähr. Am Ende ist alles dokumentarisch.“

Gibt es Gleichberechtigung im Filmbusiness?

Ebenfalls zur Sprache kommt der letzte Bodensee-Tatort mit Klara Blum (Eva Mattes). In „Wofür es sich zu Leben lohnt“ bringt Goette die großen Fassbinder-Schauspielerinnen Irm Hermann, Hanna Schygulla und Margit Carstensen zusammen vor die Kamera – eine ganz besondere Erfahrung mit den buchstäblichen Charakterdarstellerinnen, wie die Regisseurin, die auch Co-Autorin des Drehbuchs war, lachend erzählt.

Astrid Beyer bei der Meisterklasse mit Aelrun Goette im HDF © Elisa Reznicek/HDFBis man ihr große Budgets wie die des „Tatorts“ zugetraut hat, sei es allerdings ein langer und bisweilen heute noch steiniger Weg gewesen. „Frauen werden nicht nur von Männern hintangestellt – ich habe sogar mehr direkte Diskriminierung von Frauen erlebt“, betont sie. „Ich weiß, ich mache mir mit diesen Bemerkungen keine Freunde. Denn natürlich hat man lieber eine Frau, die sich vorne hinstellt und sagt: ‚Ist doch alles super! Wir haben doch Gleichberechtigung.‘ Aber das subjektive Gefühl der gläsernen Decke wird immer mehr in Zahlen gegossen. […] Alles, was nicht ‚männlich, 30, weiß‘ ist, hat’s schwer.“

Neuer Kinofilm durch Corona ausgebremst

Die Corona-Krise verkompliziere die Arbeit zusätzlich – nicht nur, aber auch, weil die Luft für Filmschaffende immer dünner werde. So musste Aelrun Goettes aktuelles Herzensprojekt, der Kinofilm „In einem Land, das es nicht mehr gibt“, nach langem Ringen um Finanzierung und Partner vorerst auf Eis gelegt werden. Der Dreh ist auf 2021 verschoben. Die Geschichte taucht in die Umbruchszeit der DDR im Jahr 1988 ein und bedient sich auch aus dem eigenen Leben der Filmemacherin. So arbeitet die Protagonistin, wie die Regisseurin einst selbst, als Model für das Modejournal Sibylle.

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Transportiert werden soll ein spezielles Lebensgefühl, das weit ab vom oftmals vorherrschenden Bild einer muffig-grauen Diktatur und Mangelwirtschaft in den DDR-„Underground“ entführt. Einen ersten Eindruck dieser jungen, wilden und für viele vermutlich überraschenden Parallelwelt gibt ein großformatiges Moodboard in Buchform mit vielen sehenswerten Fotos und weiteren Inspirationsquellen, das die Teilnehmer*innen der Meisterklasse mit großem Interesse durchblättern.

Filmstills aus Aelrun Goettes Filmen

In der Meisterklasse mit Aelrun Goette im Haus des Dokumentarfilms wurden unter anderem die folgenden Filme thematisiert, die auf den Stills zu sehen sind: „Ohne Bewährung – Psychogramm einer Mörderin“, „Feldtagebuch – Allein unter Männern“, „Die Kinder sind tot“, „Keine Angst“ und Tatort: „Wofür es sich zu Leben lohnt“. Drehbeginn für den Kinofilm „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ ist vorausichtlich 2021.

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