„Vicenta“ von Darío Doria: ein leiser Film mit viel Kraft

Oftmals sind es gerade die leisen Filme, die am lautesten widerhallen. „Vicenta“ von Darío Doria ist einer davon. Der aussichtsreiche Anwärter auf eine Auszeichnung im Internationalen Wettbewerb beim DOK Leipzig 2020 feierte seine Weltpremiere am 28. Oktober.

Der ungewöhnliche animierte Dokumentarfilm „Vicenta“ erzählt von einer menschlichen Tragödie und dem vielleicht größten medizinischen und juristischen Skandal Argentiniens. Aber er transportiert auch und vor allem Kraft, Mut, Hoffnung, Zuversicht und Liebe.

Ein ergreifender animierter Dokumentarfilm

„Vicenta“ ist ein Film, der einer Fabel gleicht. Nur sehr wenig bewegtes Archivmaterial wie Nachrichten-Ausschnitte aus dem Fernsehen finden Eingang in diese starke Produktion, die von Liliana Herrero atmosphärisch aus dem Off erzählt wird. Die Einspieler wirken durch die Art ihrer Einbettung umso eindringlicher. Die Kamera kreist die meiste Zeit um die äußerlich starren Figuren, die beim Zusehen doch sehr lebendig wirken. Sie befinden sich wie einst die echten Charaktere im Auge des Sturms. Was auf den ersten Blick sonderbar klingen mag (Ein Dokumentarfilm nur mit Knetfiguren?), funktioniert beeindruckend gut.

Zur Storyline von „Vicenta“

Die geistig und körperlich behinderte Laura ist auf dem Papier 16 Jahre alt, als sie von ihrem Onkel vergewaltigt wird. Doch die zarte Kinderseele, die laut Gutachten ungefähr auf dem Stand einer Achtjährigen ist, kann all dies gar nicht erfassen und begreifen. Die unglaubliche Tat kommt erst heraus, als das Mädchen über heftige Bauchschmerzen klagt und die Mutter mit ihr ins Krankenhaus fährt. Damals ist Laura bereits in der 14. Woche schwanger.

„Wie viele Entscheidungen kannst du in der Sekunde treffen, in der sich alles verändert“, grübelt Mutter Vicenta, die dem Film ihren Namen gibt. Denn was folgt, ist eine schier unglaubliche und geradezu unmenschliche Odyssee durch einen bürokratischen, juristischen, medizinischen und religiösen Dschungel. Immer mehr Fragen werden aufgeworfen. Die Situation verkompliziert sich zusehends, während die Zeit unerbittlich voranschreitet.

  • Darf das behinderte Mädchen abtreiben?
  • Was ist mit den Rechten des ungeborenen Kindes?
  • Kommt eine Adoption in Frage und kann man Laura dazu zwingen?
  • Welche Haltung hat der Erzeuger und hat ein Vergewaltiger überhaupt ein Mitspracherecht?
  • Wie viel Einfluss können und vor allem dürfen Staat, Kirche, Mediziner, Ethik-Kommissionen etc. nehmen?

Es ist einerseits eine Tour de Force für die Mutter, Lauras ältere Schwester Valeria und das Mädchen selbst. Andererseits ist es aber auch ein Akt der Selbstermächtigung, bei dem vor allem die Mutter über sich hinauswächst. Die einfache Frau aus einfachen Verhältnissen, die sich mit Putzjobs über Wasser hält und weder lesen noch schreiben kann, kämpft wie eine Löwin für ihr Kind. Am Ende führt der Fall 2007 sogar zu einer Klage gegen den argentinischen Staat vor dem UN-Menschenrechtskomitee und 2011 zur Verurteilung desselben. Eine späte Gerechtigkeit, die bitter nötig war.

„Vicenta“ beim DOK Leipzig online sehen

Bis zum Festivalende des DOK Leipzig am 1. November 2020 ist der Film noch einige Male in Leipziger Kinos zu sehen. Außerdem gibt es die Möglichkeit, „Vicenta“ bis zum 12. November online zu streamen. Ein Einzelticket kostet fünf Euro.