DOK Premiere im September: DAS DEUTSCHE VOLK
Das Haus des Dokumentarfilms zeigt im September 2025 Marcin Wierzchowskis Dokumentarfilm DAS DEUTSCHE VOLK als DOK Premiere in Berlin, Stuttgart und Ludwigsburg. An die Filmvorführung schließt sich ein Filmgespräch mit Regisseur Marcin Wierzchowski an.
„Vor der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche beantragte Jacob Grimm eine Änderung in der Formulierung vom Artikel 1 der Grundrechte. Sein Vorschlag: ‚Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.‘ Jacobs Ansinnen zielte, indem es allen Deutschen die gleichen Freiheitsrechte sichern sollte, im materiellen Sinne auf dasselbe, worauf auch die philologische Arbeit der Brüder Grimm hinauslaufen sollte: die Einheit der deutschen Nation. Jedoch: Der Antrag wurde mit 192 zu 205 Stimmen abgelehnt.“ Zitiert nach: Und wenn sie nicht gestorben sind … Anekdoten über die Gebrüder Grimm. Gesammelt und aufgeschrieben von Ruth Oelze. Berlin 2009.
Geschichte & Gegenwart – ohne Kommentar, doch mehr als eine bloße Assoziation, grimmig notiert!
Wer gehört zu Deutschland und wer nicht?
Eine Kerze wird entzündet. Ein Gottesdienst abgehalten. Andacht. Ikonen. Eine Frau bekreuzigt sich. Ein Mann und eine Frau, vom Einkauf kommend, gehen an einem Feldrain vorbei. An einem Flurkreuz halten sie inne und schlagen das Kreuz. Auf einem Friedhof reinigt ein Mann ein Mausoleum. Hier ist sein Sohn bestattet. Stolz spricht er über die Materialien. Marmor aus Italien. Das Grabmal ist so und mit diesen Steinen errichtet, weil, so erklärt er, dies ein Ausdruck seiner Gefühle sei. Steingewordener Schmerz über den Tod des Sohnes. Rotoren eines Hubschraubers lärmen, Aufnahmen von Straßenzügen auf einem Monitor, im Hintergrund Stimmen, die sich über Geschehenes austauschen. Anweisungen geben. Schon wissen, dass diese Bilder um die Welt gehen werden. Genau in diesem Augenblick. Hanau in der Nacht des 19. Januar 2020, etwa um 22.00 Uhr.
An zwei Tatorten erschoss der 43-jährige Tobias Rathjen neun Menschen mit Migrationshintergrund: Said Nesar Hashemi, Hamza Kenan Kurtović, Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Gökhan Gültekin, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz und Kaloyan Velkov. Andere verletzte er durch seine Schüsse schwer. Er mordete aus rassistischen Gründen. Er sei, so die Polizei, von paranoiden Wahnvorstellungen geprägt gewesen, was nichts anderes meint, als dass Rathjen sich in Versatzstücken diverser Verschwörungsideologien verfangen hatte und willig rechtsextremistischer Propaganda erlag. Schon im Januar, vor den Morden, hatte er im Netz eine „Botschaft an das gesamte deutsche Volk“ veröffentlicht und darin zum Krieg gegen die „Geheimorganisation und gegen die Degeneration unseres Volkes“ und zur Vernichtung der Bevölkerung ganzer Staaten aufgerufen. Das Pamphlet blieb von der Polizei unentdeckt. So heißt es. Nach den Taten flüchtete Rathjen, erschoss seine bettlägerige Mutter und dann sich selbst.
Schon 2021 hatte sich Marcin Wierzchowski in seinem Film „Hanau – Eine Nacht und ihre Folgen“ mit den Morden von Hanau beschäftigt und eine erste Rekonstruktion des Tathergangs versucht. Mit seinem neuen Film „Das Deutsche Volk“ setzt er diese Auseinandersetzung, diese Gegenüberstellung von Opfern und den Deutschen in Hanau und anderswo mit wuchtiger Präsenz fort. Über vier Jahre begleitete er die Angehörigen der Opfer, bannte filmisch ihre Trauer und ihre Wut, ihren unermüdlichen, sich selbst für die Toten aufopfernden Mut und Kampf um Anerkennung und Zugehörigkeit zu diesem Land, das sie ihr Zuhause nennen. Worte des Mitgefühls nehmen sie dankbar an, doch genug ist es nicht, denn es bleibt ihnen der Eindruck, dass die verantwortlichen Personen und Behörden, die den Anschlag in aller Konsequenz aufzuklären hätten, sich schnell wegducken. Es bei Worten und wohlfeilen Entschuldigungen belassen wollen. Als wäre es hinzunehmen, dass Mord aus rassistischen Gründen eine lediglich traurige Realität sei. Eine neue Normalität!?
Wider die Fesseln des Bestehenden
Lange Einstellungen. Ein ruhiger Fluss der Bilder. Die Montage (Stefan Oliveira-Pita) vermeidet jedweden spekulativ dramatisierenden Schnitt. Immer wieder sucht die Kamera (Marcin Wierzchowski und Peter Peiker) nach einer Wahrheit im Detail. Zeigt die Bilder der Opfer, die die Familien in ihren Wohnungen aufgehängt haben. Zeigt, wie diese den Blick des ermordeten Kindes suchen. Zeigt eine Frau, die das Handy ihres Sohnes vorstreckt, das sie immer wieder neu auflädt, als gebe es Lebenszeichen des Ermordeten. Einen Herzschlag gar. Fängt auf, wie Blumen und Kerzen am Tatort von einem Arbeiter abgeräumt werden. Ab in die Tonne. Nah bei den Gesichtern bewegt sich die Kamera. Die Nuancen des Schmerzes, der Ohnmacht und Wut haben sich in ihnen eingegraben. Aufgenommen dies alles in strengem, ja, strengstem Schwarzweiß. Die Tat lässt keine Farbigkeit zu. Versucht in diesen bewussten Einstellungen, die Zeit kosten und Überwindung, sie in dieser Konsequenz anzusehen, um alle Gefühle ungefiltert zu zeigen. Und die Anstrengung, Aufklärung in das Geschehen zu bringen. Denn die Polizeiarbeit, die ermittelnden Behörden, agieren nach Schema F; erkennen oder wollen nicht erkennen, dass dies kein ‚normaler‘ Amoklauf war. Und begreifen spät, dass es in der hessischen Polizei ein Netzwerk von Polizisten gab, die der rechtsextremen Szene wohl nahestehen, als Beamte eines Sondereinsatzkommandos in der Nacht der Morde möglicherweise befangen ermittelten. Opferbeschreibungen werden veröffentlicht, klassifizieren ein Opfer als „orientalisch-südländisch“, doch sein Sohn sei dunkelblond und blauäugig gewesen, so der Vater in immer noch fassungsloser Empörung. Eine rassistische Diskriminierung für den Toten einer rassistischen Tat. Erst das Beharren der Hinterbliebenen auf einem Untersuchungsausschuss – sowie die Recherchearbeit des dokumentarischen Künstler:innenkollektivs „Forensic Architecture“ brachte peu à peu das Ausmaß der Versäumnisse der Ermittlungsbehörden an den Tag. Wierzchowski hat seinen Film radikal aus der Perspektive der Hinterbliebenen gedreht. Unter Tränen berichtet ein Vater, wie er auf der Suche nach seinem Sohn von Beamten barsch abgewiesen wurde. Dabei lag sein totes Kind im zerschossenen Auto hinter der Polizeiabsperrung in unmittelbarer Nähe. Ein anderer beschreibt sein Erschrecken, als man ihm den Leichnam seines Sohnes übergab – nach einer Obduktion, der er aus religiösen Gründen nicht zugestimmt hätte. Der Regisseur lässt all diese Aussagen, auch jene, die von Politiker:innen und Ermittlern kommen, unkommentiert. Kein Voice-Over, kein begleitender oder erläuternder Kommentar ordnet ein. Was widersprüchlich ist oder als solches wahrgenommen werden könnte, bedarf der individuellen Einordnung.
https://youtu.be/VyikcikOheI
Buch und Regie: Marcin Wierzchowski, Kamera: Marcin Wierzchowski, Peter Peike, Dramaturgie und Montage: Stefan Oliveira-Pita, Produktion: milk&water, strandfilm, Produzent:innen: Marcin Wierzchowski, Pola Sell, Dorothea Braun, Kurt Otterbacher, Julius Thei, Redaktion: ZDF/3sat, Hessischer Rundfun, Radakteurinnen: Katya Mader, Sabine Mieder, Gefördert durch HESSEN FILM & MEDIEN, Verleih: Rise and Shine Cinema
Das Denkmal
Auf dem Neustädter Marktplatz in Hanau, zentraler Ort der Stadt, steht seit 1896 das ‚Nationaldenkmal‘ der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Gestiftet für 500 Gulden von einem ehrbaren Hanauer Bürger namens Pedro Jung, Tabakfabrikant seines Zeichens und in der Revolution von 1848 in Hanau eine führende Persönlichkeit, mitbeteiligt an dem ‚Hanauer Ultimatum‘, dass im Kurfürstentum Hessen der Revolution – wenn auch nur vorübergehend – zum Erfolg verhalf. Die beiden Brüder wurden in Hanau geboren, doch wirkten sie dort nicht. Wilhelm Grimm sitzend, Jacob stehend. Die Legende will, dass die Brüder nachts ihre Plätze wechseln. Sie waren keine Revoluzzer, aber für die Freiheit. Und sie waren keine Märchenonkel des „Es war einmal“, eher Reporter des „Es ist“. Zuweilen mischt sich das Denkmal in die filmische Erzählung. Aus jedweder Perspektive aufgenommen – fern und nah, frontal und seitlich. Auch der Kamera den Rücken zuwendend. Wie eine Metapher. Auf dem Sockel wird als Stifter „Das Deutsche Volk“ genannt. Doch wer ist dieses „Deutsche Volk“? Gehören auch die Opfer des rassistischen Mordanschlags dazu? Ein Denkmal für sie, dass sich die Angehörigen wünschen und das von der Stadt nicht grundsätzlich abgelehnt wurde, sollte in der Nachbarschaft der Grimms aufgestellt werden. Doch eine Mehrheit der Bürger sprach sich gegen diesen Standort aus, nicht gegen einen Gedenkort für die Opfer generell. Die Meinung der Opferfamilien: „Dann lasst das Denkmal doch bleiben!“ Und so stehen Jacob und Wilhelm Grimm verwaist – ohne Said Nesar Hashemi, Hamza Kenan Kurtović, Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Gökhan Gültekin, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz und Kaloyan Velkov in ihrer Nähe. Say their names!
Nachtrag, zur Erinnerung
„Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Heißt es in dessen Präambel. Artikel 1, 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Und in Artikel 3, 3: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
In Märchen, so heißt es bei Ernst Bloch, kommen Wunschbilder zum Vorschein, die sich durch ihren aktiven Charakter auszeichnen. Sie haben zumeist die Lebensweisen und Sehnsüchte unterprivilegierter Schichten zum Inhalt und schildern diese mit zukunftsweisender Fantasie. Die Kraft der Märchen beruht auf der symbolischen Erzählform, durch diese werden die utopischen Züge zu den wesentlichen. „Es war einmal“ ist kein Hinweis auf Vergangenes, sondern auf eine mögliche bessere Welt.
DOK Premiere DAS DEUTSCHE VOLK
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Donnerstag, 04.09.2025, 20.00 Uhr
Bundesplatz-Kino Berlin
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Dienstag, 23.09.2025, 20.00 Uhr
Atelier am Bollwerk Stuttgart
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Mittwoch, 24.09.2025, 19.30 Uhr
Caligari Kino Ludwigsburg