Ausblick auf die Berlinale 2023: Realität im Fokus

Mit großen Schritten geht es in Richtung 73. Internationale Filmfestspiele Berlin (16.-26.2.23). Ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs legt die Berlinale einen Schwerpunkt auf die Ukraine. Mit Spannung erwartet wird u. a. „Superpower“ von Sean Penn und Aaron Kaufmann.

Berlin Keyvisual 1„Die allgemeine Weltlage spielt natürlich auch bei der Berlinale eine Rolle – sowohl im Festivalprogramm als auch den Rahmenveranstaltungen“, sagt Geschäftsführerin Mariëtte Rissenbeek bei der diesjährigen Programm-Pressekonferenz am 23. Januar 2023. Neben Themen wie den Auswirkungen des Klimawandels und Fragen nach Diversität, Gleichstellung und Inklusion liege die „große Aufmerksamkeit auf der Ukraine und dem Iran, aber auch auf Filmschaffenden aus Ländern wie Syrien, Türkei und Afghanistan – Ländern, in denen es ebenfalls schwierig ist, Filme auf die Beine zu stellen.“

Auch Carlo Chatrian, künstlerischer Leiter der Berlinale, berichtet von einem starken Gegenwarts-Bezug, und zwar gleichermaßen im fiktionalen wie dokumentarischen Bereich. „Bei der diesjährigen Programm-Auswahl hatten wir den Eindruck, dass die Realität zurück ist. Wir haben viele Filme, die mit dieser Realität eine starke Beziehung entwickeln. Doch Kino ist anders. Ist mehr! […] Die Kamera ist ein Fenster in die Welt, aber immer auch ein Filter.“

 

Sean Penns Ukraine-Doku „Superpower“ feiert Weltpremiere

Viel Aufmerksamkeit erhält schon jetzt „Superpower“ von Sean Penn und Aaron Kaufman. Der Dokumentarfilm feiert im Rahmen der Berlinale Special Gala Weltpremiere und wurde unter schwierigen Bedingungen aufgenommen.

Berlinale 23 Special Superpower„Wie viele von Ihnen sicher wissen, hat Sean Penn im November 2021 in der Ukraine gedreht und sich auch mit Wolodymyr Selenskyj getroffen. Er war in Kyiv, als der russische Angriffskrieg ausgebrochen ist. Die Realität hat also dafür gesorgt, dass dieser Film nicht wie geplant fertiggestellt werden konnte.” Vielmehr habe er sich „in etwas Bedeutungsvolleres verwandelt“, so Carlo Chatrian. Ursprünglich sollte die Doku u. a. den Werdegang des ukrainischen Staatschefs vom Komiker und TV-Star zum Politiker nachzeichnen. Nun öffnet sie eine Tür in das komplexe und schicksalshafte Geschehen inmitten der Kriegswirren.

Berlinale 23 Encounters Shidniy front

Auch „Eastern Front“ (OT: „Shidniy front“) von Vitaly Mansky und Yevhen Titarenko in der Sektion „Encounters“ erzählt vom Krieg. Titarenko hat parallel seinen Einsatz an der Front und sein Leben aufgenommen. „Gemeinsam mit Vitaly Mansky entsteht so ein ziemlich einzigartiger und bemerkenswerter Film, der einen umfassenden und tiefgehenden Einblick erlaubt, was Krieg bedeutet – und zwar ganz konkret“, erklärt Chatrian. Der Dokumentarfilm wurde in verschiedenen Regionen der Ukraine gedreht, darunter in und um Kyiv, Kharkiv und Kherson.

Spotlight auf den Iran

Mit der Situation im Iran, insbesondere dem staatlich ausgeübten Terror gegen seine eigenen Bürger:innen, beschäftigt sich Mehran Tamadon. „Where God Is Not“ (OT: „Jaii keh khoda“) ist Teil des Forum-Programms. „My Worst Enemy“ (OT: „Mon pire ennemi“) in der Sektion Encounters kann man als Pendant dazu verstehen. Tamadon setzt vor allem auf das Mittel des Dialogs. Einerseits kann sich aus einem Zwiegespräch eine Konfrontation entwickeln, andererseits kann ein Gespräch dabei helfen, Gegensätze zu überwinden und Brücken zu bauen.

Berlinale 23 Jaii Keh Khoda Where God is Not
Berlinale 23 Encounters Mon pire ennemi
„Where God Is Not“ (OT: „Aii keh khoda“) links und „My Worst Enemy“ (OT: „Mon pire ennemi“) rechts

In „My Worst Enemy“ (OT: „Mon pire ennemi“) stellt sich der Filmemacher einem selbst inszenierten Verhör, das denen im Iran ähnelt. Das Ergebnis will er seinem Heimatland übergeben, in das er nicht aus dem Exil zurückkehren kann, ohne verhaftet zu werden. „Where God Is Not!“ (OT: „Aii keh khoda“) wurde in einem leeren Raum am Rande von Paris gedreht. Frühere politische Gefangene aus dem Iran stellen dort in einer Art Gefängniszelle nach, wie sie verhört und gefoltert wurden.

Pandemie und der Umgang mit dem Tod

Berlinale 23 Encounters Le mura die BergamoDas nördlich von Mailand gelegene Bergamo erlangte im Frühjahr 2020 traurige Berühmtheit. Es wurde zu einem der Epizentren der Pandemie. Bilder wie die des Militärkonvois, der nachts Corona-Tote über die menschenleeren Straßen in die Krematorien der Stadt transportiert, sind Teil des kollektiven Gedächtnisses. „Stefano Savona hat das Geschehen im Corona-Frühling mit der Kamera eingefangen. Aber er folgt den Protagonist:innen auch im Nachhinein. Der Film dreht sich also nicht nur um die Pandemie als solche, sondern auch darum, wie wir mit Gefühlen wie Trauer, Verlust und Instabilität umgehen“, führt Carlo Chatrian aus. „Le Mura di Bergamo“ läuft in der Sektion Encounters.

Berlinale 23 Encounters SamsaraAls eine der „größten immersiven Erfahrungen in der Sektion Encounters“ wird „Samsara“ von Lois Patiño in der Programm-Pressekonferenz angekündigt. Samsara steht für den buddhistischen Kreislauf von Leben, Tod und Reinkarnation. „Samsara ist so präzise und realistisch, wie es ein Dokumentarfilm sein kann, aber gleichzeitig auch wie ein Traum“, sagt Chatrian. Der Filmemacher Lois Patiño „begleitet“ eine Seele bei ihrem Übergang von einem Körper zum anderen. Die Reise führt Patiño dabei von Tempeln in Laos bis zu den Stränden Sansibars.

Dokumentarfilm „Sur L’Adamant“ im Wettbewerb

Im Berlinale-Wettbewerb um den Goldenen und die Silbernen Bären treten 18 Filme an. „Mehr denn je schöpft die Auswahl in diesem Jahr aus der ganzen Bandbreite filmischer Formen“, lassen die Festivalmacher verlauten. Unter den 15 Weltpremieren und drei Debüts findet sich 2023 allerdings trotzdem nur ein Dokumentarfilm. Schade.

Berlinale 23 Wettbewerb Sur lAdamant

„Sur L’Adamant“ von Nicolas Philibert stellt das Geschehen auf einem der vielen Hausboote am Ufer der Pariser Seine in den Mittelpunkt. Dieses schwimmende Gebäude ist ein ganz Spezielles – das Pariser Centre de jour L’Adamant will ein sicherer Hafen für Menschen mit einer psychischen Erkrankung sein. Durch einen zeitlich und räumlich strukturierten Tagesablauf mit therapeutischen Workshops, kreativer Arbeit und psychosozialer Rehabilitation soll den Patient:innen in der Tageseinrichtung geholfen werden. „Der Film dreht sich nicht um Leid. Es ist im Gegenteil sogar sehr schwierig, den Unterschied zwischen denen wahrzunehmen, die pflegen und denen, die gepflegt werden“, erklärt Chatrian. „Es geht darum, Brücken zu bauen, und das Adamant schafft vielleicht die wichtigste Brücke auf der Seine.“ 

Das vollständige Programm wird am 7. Februar 2023 auf berlinale.de bekannt gegeben.