So war die DOK Premiere von „Schattenkind“
Kennengelernt hat Jo Müller seinen Protagonisten bei Recherchen für den SWR; die Chemie zwischen den beiden stimmte auf Anhieb. Für „Schattenkind“ begleitete der Dokumentarfilmer den Fotografen Andreas (Andy) Reiner gute zwei Jahre bei seinen Projekten und besuchte ihn auf seinem Bauernhof nahe Biberach an der Riß.
Fotograf mit Fingerspitzengefühl
In Reiners Bildern geht es um Menschen, die keine Lobby haben: Da wären beispielsweise Frauen mit Lipödem sowie Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung wie Hans und Helmut. Deren Lebensfreude versteht er genauso einzufangen wie die Begeisterung von Moped-Fans. „Außerdem hat er diese tolle Gabe, Leute von seinen Ideen zu überzeugen“, findet Jo Müller.
Fakt ist: Seine Fotos zeugen von Empathie. „Ich persönlich muss einen Zugang zu meinem Motiv haben. Mir ist egal, ob das Projekt dann später ein Erfolg wird“, sagt der Künstler bei der Vorpremiere in Stuttgart. Der offizielle Kinostart ist am 26.01.2023.
Team war rasch überzeugt
Andy Reiner ist eine Type mit starker Präsenz. So verwundert es kaum, dass die Geschäftsführenden der Stuttgarter Produktionsfirma teamWERK, Günter Moritz und Monika Agler, schnell von Jo Müllers Filmidee überzeugt waren. Agler berichtete bei der DOK Premiere: „Jo Müller kam zu uns und sagte, er hätte einen ganz besonderen Menschen gefunden. Daraufhin kam Andy bei uns vorbei und man hat sich unterhalten. Da war die Sache schnell ausgemacht! Uns war von vornherein klar, dass der Film für das Kino geplant wird. Damit setzten wir auf Risiko, denn wir haben ohne Förderung und Senderbeteiligung mit der Produktion begonnen.“ Später beteiligte sich die MFG Baden-Württemberg mit einer Vertriebsförderung an dem Projekt.
Links: Goggo Gensch (l.), Jo Müller (m.) und Andy Reiner (r.) bei der DOK Premiere im Atelier am Bollwerk Stuttgart | Rechts: dieselben mit Komponist Dirk Maassen
© Günther Ahner/Maggie Schnaudt/HDF
Auch der Komponist Dirk Maassen sagte ohne Umschweife zu, berichtet Jo Müller: „Wir haben uns vom ersten Moment an verstanden. Er hat für die emotionalen Passagen die musikalische Untermalung geschrieben und auch selbst am Piano eingespielt. Und das, obwohl er wie wir alle keine Kohle dafür bekommen hat.“
Emotionen bei den Hofer Filmtagen 2022
Gänzlich unverhofft wurde „Schattenkind“ bei den renommierten Internationalen Hofer Filmtagen mit dem mit 7.500 Euro dotierten Preis für den besten langen Dokumentarfilm ausgezeichnet. „Wir haben das überhaupt nicht erwartet“, so Müller. „Bei Filmfestivals gibt es immer gewisse Thementrends. Das waren jetzt eigentlich Ukraine, Flucht und Rassismus; dazu gab es ganz viele Filme. Darum haben wir uns zu unserem Projekt keinerlei Chancen ausgerechnet. Als wir als Sieger genannt wurden, hat Andy sofort geheult wie ein Schlosshund. Also musste ich mich zusammenreißen und hab nur geschrien wie ein Blöder.“
Andreas Reiner hatte ebenfalls nicht mit einer solchen Resonanz gerechnet: „Ich war sehr gerührt davon, wie die Leute auf meine Geschichte reagieren. Zu Beginn der Dreharbeiten fragte ich mich manchmal insgeheim, was das alles soll. Aber ich stehe jetzt hinter dem Ding und es gibt nichts, für das ich mich schämen muss. Herausgekommen ist etwas, das die Welt berührt.“
Sehr persönlicher Zugang
Dem Filmemacher war es wichtig, etwas ins Kino zu bringen, das seinem Protagonisten entspricht: „Nicht zuletzt aufgrund seiner Vergangenheit ist Andy für mich ein Held. Er hat Schlimmes erlebt mit seiner Familie und war drei Jahre lang in einer psychiatrischen Einrichtung. Was ich allerdings unbedingt vermeiden wollte, war jede Form von Betroffenheitskino. Davon gibt es gerade im deutschen Film viel. Darum war es mir wichtig, keinen gekünstelt-intellektuellen Film über Andy zu machen, sondern einen rein sinnlichen. Ich wollte verstehen, was diesen Burschen antreibt.“
Reise in die Vergangenheit
DOK Premiere Kurator Goggo Gensch vom Haus des Dokumentarfilms erkundigte sich nach Müllers Vorgehensweise bei der Konzeption von „Schattenkind“. Dieser ist kein Freund von allzu akribischer Planung im Vorfeld, wie er erzählt hat, jedoch sind einige Schritte essenziell wichtig für ihn: „Ich arbeite immer nach einer alten Methode und schreibe alle Ideen auf Karteikarten. Später entscheide ich, was es wirklich braucht, um die Geschichte zu erzählen. Alles andere kann auch wieder rausfallen. Der Psychiatriebesuch war einer dieser Kernpunkte. Aber vor Ort habe ich mich dann nicht weiter eingemischt, sondern Andy mit seinem früheren Betreuer reden lassen. Das war wahnsinnig bewegend.“
Auch für Andy Reiner war die Rückkehr an diesen Ort wichtig: „Als ich mich vor Jahren mit meiner Depression geoutet habe, ist mir viel Gegenwind für meine Offenheit entgegengeschlagen. Aber für mich war es ein Stück weit befreiend: Ich kann ja nicht von anderen Leuten verlangen, dass sie für meine Fotos emotional die Hosen runterlassen und selbst so zu tun, als hätte ich nichts. Ich stehe zu meiner Vergangenheit. Die Zeit in dieser sozialspychiatrischen Einrichtung war gut für mich. Was andere Leute daraus machen, ist nicht mehr meine Sache.“
Stuttgart war erst der Auftakt
Die DOK Premiere von Jo Müllers „Schattenkind“ im Atelier am Bollwerk war gleichzeitig die Baden-Württemberg Premiere. Dementsprechend voll war der Kinosaal, der 120 Personen fasst. Der Abend war ein gelungener Auftakt der Deutschlandtour, die nach circa 20 Städten im „Ländle“ auch Ausflüge in den Osten und anschließend nach Köln und Aachen machen wird.
Stefan Paul, Leiter des Arsenal Filmverleihs, entdeckte „Schattenkind“ auf den Hofer Filmtagen: „Die Reaktionen des Publikums waren toll. Er wurde sehr warm aufgenommen“. Darum ist er zuversichtlich, was den Norden Deutschlands betrifft: „Nach Hamburg sind wir zwar noch nicht so durchgedrungen, aber ich denke, dass ‚Schattenkind‘ einen enormen Rumsprecheffekt bekommt.“ Für erste Weiterempfehlungen sorgt sicherlich das Stuttgarter Publikum, das dem warmherzigen Portrait über Fotograf Andreas Reiner reichlich Applaus spendete.
Die DOK Premiere ist eine vom Haus des Dokumentarfilms kuratierte Filmreihe. Sie präsentiert einmal im Monat in Ludwigsburg und Stuttgart aktuelle Kinostarts von Dokumentarfilmen. Die jeweiligen Regisseur:innen sind für Werkstattgespräche mit dem Publikum vor Ort. Kuratoren sind Goggo Gensch (Stuttgart) und Kay Hoffmann (Ludwigsburg).
Jo Müllers „Schattenkind” ist eine Produktion von teamWerk. Die Filmproduktion GmbH. Gefördert durch die Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg (MFG) und im Verleih von Arsenal Filmverleih GmbH. Die Veranstaltung fand am 17.01.2023 um 18 Uhr im Atelier am Bollwerk Stuttgart statt.