Berlin-Premiere »Der Chronist« von Marcus Welsch

Am 14. Oktober 2019 findet um 19 Uhr die Berlin-Premiere des Dokumentarfilms »Der Chronist« von Marcus Welsch in der Landesvertretung Baden-Württemberg statt. Das Haus des Dokumentarfilms ist Kooperationspartner. 

»Der Chronist« ist Ergebnis einer Langzeitrecherche mit ukrainischen und polnischen Historikerinnen. Trotz anfänglich großer Schwierigkeiten fand das Team 1.000 Aktenblätter zu den Zwangsarbeitern in Singen am Hohentwiel. Im Mittelpunkt steht Wilhelm Waibel, der seit Jahrzehnten ihr Schicksal erforscht. Nach der Wende gelang es ihm sogar, Kontakt zu den Überlebenden aufzunehmen. Dieses Engagement des Chronisten war keine Selbstverständlichkeit, denn in der Regel wurde dieses Kapitel deutscher Geschichte und deutscher Schuld erfolgreich verdrängt. Man wollte sich damit nicht beschäftigen. 

Sogar der Birnbaum wurde gefällt, an dem der junge Arbeiter aus Polen gehängt wurde. So erzählen es die Leute im Dorf. Während über die NS-Vergangenheit noch eisern geschwiegen wird, stößt Wilhelm Waibel im Keller des Unternehmens, für das er arbeitet, zufällig über eine Kiste: Personalakten von Zwangsarbeitern. Waibel macht sich auf die Suche, auf eigene Faust und ohne eine akademische Ausbildung. Er klopft an Firmentore, stellt Fragen, schreibt Briefe an die Deportierten von damals, über den Eisernen Vorhang hinweg vor allem nach Polen und in die Sowjetunion. In der Glasnost-Zeit bekommt er endlich Antworten, dann eine Reisegenehmigung. Er trifft die ehemaligen Zwangsarbeiter und sorgt für viel Wirbel vor allem in der Sowjet-Ukraine, wo er auch den Widerstand der Veteranen-Organisationen zu spüren bekommt. 

Die Begegnungen mit den Menschen, deren Schicksale von den Ideologien des 20. Jahrhunderts gleich mehrfach zerrüttet wurden, sind das Kernstück des Films. In bewegenden Interviews schildern die letzten Überlebenden aus Polen und der Ukraine ihre Überlebens-Geschichten. Als Pionier kämpft Waibel ein Leben lang gegen die Verdrängung des NS-Themas in seiner Heimat an. Seine Begegnung mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa ist die Geschichte einer Versöhnung – die aber zurück nach Deutschland führt, in die Gegenwart. 

Ein zentraler Punkt bleibt die Verantwortung der Industrieunternehmen zur Zeit des Nationalsozialismus. Wie stehen sie heute zu ihrer Geschichte? Was waren die Umstände, warum die Schweizer Maggi-Fabrik im Nationalsozialismus für die Wehrmacht in Singen (aber auch in Polen und der Ukraine) produzieren ließ, und warum tut sich die Firmen-Nachfolgerin Nestlé, die die Maggi 1947 übernommen hat, so schwer mit der Aufarbeitung? Als ausländisches Unternehmen sah sich das Schweizer Maggi-Werk zu Beginn der NS-Herrschaft einer Propaganda der deutschen Konkurrenz ausgesetzt, so dass die Firmenleitung sich für eine Anpassung an die NS-Leitlinien entschloss. Maggi wurde so der erste »nationalsozialistische Musterbetrieb« in der Region. Lange wurde bestritten, dass man sich an der Expansion der neu eroberten Gebiete in Osteuropa beteiligt hat. Den Rechercheuren in Kiew gelang es Firmenakten zu finden, die die Existenz der Firma im Reichskommissariat Ukraine belegen. Zuvor hatten Schweizer Historiker im Zusammenhang des Bergier-Berichts aus der Firmenkorrespondenz auch Pläne für den Rückzug in das Gebiet Polens offengelegt. Die zweite Großfirma in Singen, die ehemaligen Aluminiumwalzwerke, die im großen Stil für die Wehrmacht arbeiteten, verweigern inzwischen Antworten im Zusammenhang mit dem Film. 

Zur Begrüßung werden Andreas Schulze von der Landesvertretung Baden-Württemberg und Dr. Christine Glauning, die Leiterin des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit sprechen. Im Anschluss an die Vorführung wird es ein Filmgespräch von Kay Hoffmann (Haus des Dokumenarfilms) mit dem Chronisten Wilhelm Waibel und dem Regisseur Marcus Welch geben. Die Veranstaltung des Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit und der Landesvertretung Baden-Württemberg wurde mit von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit vergebenen Mitteln des Auswärtigen Amtes gefördert und findet in Kooperation mit dem Haus des Dokumentarfilms Stuttgart statt.