Dokumentarische Bildgestaltung in digitalen Zeiten 

Zum ersten Mal widmete sich die Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NRW (dfi) auf einem ihrer Symposien mit dem Thema Bildgestaltung und dem Verhältnis der Regisseurinnen und Regisseure zu ihren Kamerafrauen und -männern.

Dies ist zum einen interessant, da die Technik schon immer einen Einfluss auf die Bilder hatte und zum anderen die Digitalisierung die Bildproduktion in der vergangenen 30 Jahren radikal verändert hat. Simone Stewens, die Direktorin der internationalen filmschule köln (ifs) formulierte es in ihrem Grußwort provokativ, dass die post-fotografische Phase den Wirklichkeitsanspruch des Films in Frage stellt. Inzwischen sei es möglich, sich die Bilder im Computer zu bauen, die man haben will. Auch Petra Schmitz als Organisatorin des Symposiums konstatierte, dass Bilder inzwischen aus Daten bestünden, die bearbeitet, gestaltet und manipuliert werden könnten. Dies mache sie anfällig für Störungen.

In den zahlreichen Panels, die folgen sollten, ging es dann eher um die tägliche Praxis. Die Konsequenzen der Digitalisierung spielten eher am Rande eine Rolle. Der Kameratest der AG DOK, den Helge Renner und Rasmus Sievers präsentierten, machte jedoch deutlich, dass die digitalen Kameras ein solches technisches Fachwissen in der Menüsteuerung verlangen, dass es ratsam ist, dazu Spezialisten zu engagieren und als Regie nicht eben mal die Bildgestaltung zu übernehmen, wie dies im Autorenfilm der 1970er und 1980er Jahre noch üblich war, als man sich in die 16mm-Kamera relativ schnell einarbeiten konnte. Dies Wissen konnte man Jahrzehnte nutzen. In dieser Tradition steht der Filmemacher Christoph Hübner, dessen Kameraarbeit der Filmkritiker Michael Girke würdigte. Er sprach von Zeit als ästhetischem Phänomen und geschenkten Momenten, wenn Hübner sich seinen Protagonisten auf besondere Weise näherte. Heute kommen alle paar Jahre immer neue Techniken auf den Markt, so dass selbst Kamerafrauen und -männern nicht mehr hinterherkommen. Jörg Adams aus Köln berichtete von einer Produktion, für die er als Kameramann neun Bildsysteme im Transporter hatte von der GoPro bis zur Drohne. Im Zweifelsfall würde er die Kamera erst beim Drehen kennenlernen, da gar nicht die Zeit sei, sich in alle Systeme im Vorfeld intensiv einzuarbeiten – was er selbst bedauerte. 

Für ihre Dokumentarfilme »Flowers of Freedom« (2014) und »The Whale and the Raven« (2019), der gerade im Kino gestartet ist, übernahm Mirjam Leuze selbst die Bildgestaltung. Sie hat eine sechsmonatige Ausbildung als Videojournalistin absolviert und dann für den WDR gearbeitet. Dass die Bildgestaltung für Dokumentarfilme andere Anforderungen stellt, wurde ihr bei einem Seminar des renommierten australischen Filmemachers David Mac Dougall klar, der sich wie sie auf ethnografische Filme spezialisiert hat. Für ihren aktuellen Film arbeitete sie mit verschiedenen Kameramännern für Unterwasser- und Drohnenaufnahmen zusammen, die sie mir ihren Ideen forderte. So sollte die Drohne das Flugverhalten eines Raben annehmen, was für Mike Dinsmore eine ziemliche Herausforderung darstellte, wie er im eingespielten Interview berichtete. Natürliche Flugbewegungen von Vögeln sind bei Drohnen nicht vorgesehen. Außerdem gab es bei den beiden Walforschern vor Ort in Kanada weder Strom noch Internet. Die Akkus mussten aus regenerativen Quellen aufgeladen werden. Die Absprache mit den kanadischen Kameramännern verlief nicht optimal, was Auswirkungen auf die Bilder hatte. In einer zweiten Drehphase mit einem neuen Kameramann funktionierte es besser. Als Cutterin hatte Sandra Brandl dann die Aufgabe, die 250 Stunden Material mit zum Teil unterschiedlichen Handschriften zu sortieren und daraus den Film zu entwickeln, der zum Teil ganz bewusst auf besonders schöne und spektakuläre Bilder der Natur und der Wale verzichtet. Für die beiden ist der Dokumentarfilm eine Reise mit unbekanntem Ausgang. Darin liege seine Stärke. 

Ganz auf die Meisterschaft ihrer Kamerafrau Sophie Maintigneux verließ sich Doris Metz bei ihren Dokumentarfilmen wie »Ich werde reich und glücklich« (2002), »Schattenväter« (2004) und aktuell »TRANS – I got life«, der gerade in Postproduktion ist. Sie beschrieben zahlreiche Drehsituationen, bei denen die Kommunikation zwischen ihnen beim Dreh nicht leicht war, wenn es beispielsweise sehr laut war an der Location oder sie ohne Vorbereitung in dem ehemaligen Bungalow von Willy Brandt drehen mussten. Doris Metz hat gelernt, dass man im Schnitt nur das montieren kann, was gedreht wurde. Deshalb ist ihr die enge Zusammenarbeit mit Sophie Maintigneux so wichtig. Von der Kamera zur Regie wechselte Rainer Komers, der in seinen Filmen die Wirklichkeit auf besondere Weise einfängt und spannende Details entdeckt. Sein »Barstow California« (2018) wurde mit dem Arte Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet und läuft im Moment in ausgewählten Kinos.

Bei der paritätisch besetzten Diskussion von Fernsehredaktion und Produktion ging es im Wesentlichen um die ästhetischen Ansprüche des Fernsehens an das dokumentarische Format und wie dies erreicht werden kann. Heike Thiemann von Phoenix hat zwar 900 Sendeplätze pro Jahr, füllt sie jedoch zu 90% durch Übernahmen von anderen öffentlich-rechtlichen Sendern. Ihr ist völlig klar, welche Bildsprache sie für Primetime benötigt, nämlich Hochglanz und Emotion. 3sat geht immer noch vom Autorenmodell aus, wie Udo Bremer betonte. Ihnen sei die künstlerische Auseinandersetzung mit Themen ebenso wichtig wie bestimmte Handschriften. Der Kamerastil sei dabei für sie sekundär. 

Erik Winker von Corso Film zeigte einen Ausschnitt aus »Fighter« (2016) von Susanne Binninger, der sehr aufwändig gedreht wurde mit zum Teil vier Kameras bei den Wettkämpfen. Schon das Exposé habe mit einem klaren Bildkonzept überzeugt. Allerdings frage er sich auch, wer bestimme, was ein hochwertiger Look ist. Die Regisseurin und Produzentin Birgit Schulz sieht bei der klassischen Fernsehproduktion den Trend zur Vereinfachung. Zuschauer sollen miterleben, wie ein Protagonist eine Entwicklung durchläuft, bei der am Ende eine Lösung steht. Aber das Leben sei oft nicht so eindeutig, dass es auf eine Seite mit fünf Keypoints überzeugend dargestellt werden könne. Auch die Redaktionen ständen unter Druck und müssten um ihre Sendplätze kämpfen. Inzwischen seien Klickzahlen schon wichtiger als Einschaltquoten. Udo Bremer machte deutlich, dass solche Kurzexposés nur als Einstieg dienen sollten für ausführlichere Gespräche. 3sat biete in der DokuZeit seit 20 Jahren ein breites Spektrum an dokumentarischen Filmen. Jeder Film sei ein neues Abenteuer.    

Beim Panel der Kameraleute war das Spektrum auch sehr breit. Conny Beißler hat festgestellt, dass die Anforderungen auch an dokumentarische Formate wachsen. Die Qualität des Bildes werde durch Auflösung und Ästhetik bestimmt. Auch Johann Feindt und Jörg Adams bestätigen, dass sich die Kameraarbeit seit der Digitalisierung kolossal verändert habe. Die Ästhetik von Dokumentarfilmen werde von Hochglanzmagazinen beeinflusst. Die Dreharbeiten stünden oft unter solchem Zeitdruck, dass man sich gar nicht auf die Situation vor Ort einstellen könne. Johann Feindt stellte fest, dass er heute ähnliche Honorare bekomme wie in den 1980er Jahren, also definitiv weniger verdiene. Oft würde aus Kostengründen auf Assistenten beim Dreh verzichtet warf Cony Beißler ein und die Vorbereitungszeit oder der Trailer würden nicht zusätzlich bezahlt, sondern als Selbstverständlichkeit genommen.      

Es gibt keine Unterschiede zwischen der Bildgestaltung für eine internationale und eine nationale Dokumentarfilm-Produktion. Da waren sich der Produzent Heino Deckert (ma.ja.de), der Regisseur David Bernet (»Democrazy«) und der Kameramann Ben Bernhard (»Aquarela«) schnell einig. Deckert sieht eher das Problem, dass nicht mehr unterschieden wird zwischen einer Kino- und einer Fernsehproduktion, was lange üblich war. Dies würde sich jetzt mit den Plattformen ändern, die wieder eine Kino-Ästhetik einforderten. In den USA gab es 2018 drei Dokumentarfilme, die über 10 Mio. Dollar eingespielt hätten (z.B. »Free Solo«, »RBG – Ein Leben für die Gerechtigkeit«). In Dänemark würden pro Jahr 8-9 Kinodokumentarfilme mit hohen Budgets und langer Entwicklungsphase gedreht, die dann aber auch international wahrgenommen würden. In Deutschland dagegen würden viel zu viel Dokumentarfilme im Kino gestartet, um die Finanzierung und Förderung zu bekommen, ergänzte David Bernet. Eine Untersuchung habe gezeigt, dass Dokumentarfilme, in die viel Zeit investiert würde, auch die erfolgreichsten auf Festivals sind. Ben Bernhard ergänzte, dass sie sich für »Aquarela« von Victor Kossakowski viel Zeit genommen hätten, um spektakuläre Bilder von Wasser zu bekommen: Das Budget hat über zwei Millionen gelegen und dies ist nur international zu finanzieren. Der Film wurde in High Frame Rate mit 96 Bildern pro Sekunde gedreht und in Dolby Atmos abgemischt. Dies habe selbst bei Fahraufnahmen für scharfe Bilder ohne Blur-Effekt gesorgt.

Nach 20 Jahren der Leitung der Dokumentarfilminiative übergibt Petra Schmitz im Frühjahr 2020 die Leitung in neue Hände. Sie hat die Arbeit der dfi zwanzig Jahre geprägt und wichtige Impulse gegeben mit den Symposien und auch der Buchreihe »Texte zum Dokumentarfilme«, die sich eher theoretisch mit dem Genre auseinandersetzt. Ihre Nachfolgerin wird die Kölner Filmvermittlerin und Kuratorin Judith Funke.