Ein Wimpernschlag lang Wange an Wange mit dem Glück

Die Ausstellung »Ekstase« ist ein großer Erfolg für das Kunstmuseum Stuttgart – unter anderem auch deshalb, weil das Thema sehr differenziert erschlossen wird. Dass es weitere Aspekte gibt, die es zu ergründen lohnt, zeigte der Thementag »Ekstase im Kino«, der nur wenige Hundert Meter vom Museum entfernt in einem der Stuttgarter Innenstadtkinos stattfand. Das Programm aus fünf Dokumentar- und Experimentalfilmen und einem Filmgespräch hatte Kay Hoffmann, Filmexperte und Studienleiter Wissenschaft im Haus des Dokumentarfilms, zusammengestellt.

Er habe sich zunächst schon gefragt, wieso man ausgerechnet ihn und seinen Film zu einem Programm über die Ekstase eingeladen habe, gab Filmemacher Thomas Riedelsheimer zu. Doch mit einem Blick auf das Plakat sei es ihm klar geworden. Dieses zeigt eine Szene aus Riedelsheimers Dokumentarfilm »Leaning into the wind«: der britische Künstler Andy Goldsworthy nimmt gelbe Blütenblätter in den Mund und pustet sie kraftvoll in die Luft. Ein klitzekleines Farbenspiel – bunt und impulsiv, aber: ist das Kunst? Oder noch besser gefragt bei diesem Thementag im Stuttgarter Kino Cinema: ist das Ekstase?

»Leaning into the wind« war bei dem von Kay Hoffmann (Haus des Dokumentarfilms) mit Kolleginnen und Kollegen des Stuttgarter Kunstmuseums zusammengestellten Filmprogramm jener Beitrag, bei dem sich die Analogie zur Ekstase nicht schon beim Titel oder beim ersten Gedanken erschloss. Eine durchaus hintergründige Auswahl – aber auch eine, die dem Publikum zusprach. Riedelsheimers Film, als vierter von ingesamt fünf Filmen an einem Tag gezeigt, war der mit Abstand am besten besuchte. Und auch das folgende Filmgespräch, bei dem sich das Publikum vielfältig mit Fragen und Meinungsäußerungen beteiligte, zeigte, dass der stille, von fast zurückhaltender Musik (Fred Frith) getragene Künstler-Dokumentarfilm eben auch eine Interpretation eines ekstatischen, der Zufriedenheit zugeneigten Zustands sein kann.

Wie vielschichtig Ekstase im Leben der Menschen, in der Geschichte der Menschheit und in der Verarbeitung durch Künstlerinnen und Künstler aus vielen Epochen dargestellt werden kann, zeigt ja eben die benachbarte Ausstellung im Kunstmuseum. Immer wieder wurden bei allen fünf gezeigten Filme gedankliche Brücken zum Glasbau am Stuttgarter Schlossplatz gezogen.

Rosa von Praunheim inszeniert Anita zwischen Rausch und Lust

Am deutlichsten war das vielleicht bei Rosa von Praunheims »Anita – Tänze des Lasters«. Dieser »fiktive Experimentalfilm mit dokumentarischen Elementen« (Kay Hoffmann) beschäftigte sich auf Praunheim’sche Art ohne Angst vor Klischee, Klamauk und Kraftausdrücken mit Anita Berber. Also mit jener Nackttänzerin des wilden Berlins der Weimarer Republik, die von Otto Dix in seinem berühmten Bild der »Dame in rot« (aka »Bildnis der Tänzerin Anita Berber«, 1925) zum ewigen Abbild einer ebenso erotischen wie zerstörerischen Liaison mit der Ekstase wurde. Die Dame ist einer der größten Schätze des Stuttgarter Kunstmuseums und bildet in der aktuellen Themenausstellung so etwas wie das Zentrum, zu dem hin alle Glückshormone streben. Rosa von Praunheims Film aus den späten achtziger Jahren, eine Hommage an den expressionistischen Stummfilm, ist ein an Vulgaritäten reiches Spiel mit Illusion und Wahnsinn, mit Rausch und blanken Pobacken. Anziehend und abstoßend zugleich und damit auch so etwas wie die verheimlichte Schwester der Ekstase: die Verderbtheit.

Wie vielschichtig sich Filmemacherinnen und Filmemacher dank des Mediums Film mit Sehnsuchtszuständen der Menschen beschäftigen können, zeigten zu Beginn des Thementags zwei Filme, in denen Tanz und Musik den Körper in Schwingungen versetzen. Ritualisiert zum Beispiel wie in Maya Derens ethnologisch interessiertem Film »A Divine Horsemen« – hier wurden monatelange Aufnahmen in Haiti bei Vodoo-Ritualen und Carneval-Umzügen zu einem besonderen Filmschatz zusammengestellt. Für westliche Zuschauer eher ungewohnt war »Trances«, ein marokkanischer Musikfilm aus den frühen achtziger Jahren, der sich mit einer im Magrheb-Raum zu der Zeit sehr populären Musikgruppe beschäftigt. Rhythmen, Wiederholungen, Schlaginstrumente sind Stilmittel dieses ekstatischen Zugangs – und für Markus Müller, freier Kurator der Ekstase-Ausstellung, standen gerade diese beiden Filme in enger Verbindung mit Exponaten und Installationen in den Museumsräumen.

 

Das Höhepunkt als Überreiz aller Emfindungen

Und dann der Überreiz. Eine unaufhörliche, gezielte Steigerung von Impulsen, Bildern, Reibungen, Tönen, die sich einem orgastischen Höhepunkt entgegenreckt und auch den Zustand der totalen Aufgabe noch weiter zu treiben versucht – das ist genau der »kleine, schöne Tod«, den der amerikanische Filmemacher Godfrey Reggio in einem absoluten Kultfilm über die Erschöpfungsgrenze hinweg peitscht. »Koyaanisqatsi« aus dem Jahre 1983 war für diesen Thementag der optische und akkustische, der alle Sinne überreizende Knock-out. Ein Meisterwerk des Filmes in einer neu restaurierten Fassung – eigens für diese Stuttgarter Aufführung aus einem Londoner Archiv angeliefert.

Ein Tag der lauten Lust ebenso wie der stillen Freude. Und einer, der Dokumentarfilm und Kunst ein großes Stück näher gebracht hat. Die Flüchtigkeit des ekstatischen Moments, in dem alles fließt und fliegt, drückte dann vielleicht doch eben jene Szene in Thomas Riedelsheimers Film aus, die dem Werk seinen Namen gab. Da sieht man, wie ein Mann im Parka gegen den Wind ankämpft: Immer wieder wird er weggeweht und dennoch steht er wieder auf; und wie er dann für einen Moment, der alle Anstrengung wert war, zum Bruder der Naturkraft wird, da liegen dann Mensch und Natur Wange an Wange und erschöpft in enger Vereinigung. Ein Waffenstillstand, der schon in der nächsten Sekunde gebrochen werden wird. Aber in diesem Wimpernschlag liegt alles Glück der Welt. Auch das, was sonst: Ekstase.